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„Marien und Motten“
Eitempera und Öl auf Leinwand, 110 x 80 cm, 2020
WF: Auch ohne Genaueres über die Hintergründe dieser Arbeit Geschichten. Seit Jahrzehnten fasziniert mich das Zerfalls-
zu wissen, fällt sofort die Boden- und Haltlosigkeit gegenüber motiv der Pusteblumen. Die kugelförmig angeordneten
„Magdalena am Krater“ aus dem Vorjahr auf. Der Fragmen- Fallschirmchen besitzen die Größe von Penis, Embryo und
tierungsgrad ist deutlich angestiegen und die Komposition Soldatenkopf. Eine 40 Zentimeter hohe Plastikfigur eines
nicht mehr ausgewogen. Der Hund im Bild ist zerschnitten. Fremdenlegionärs hält ein Gewehr. Ich blicke auf seine
BvH: Annette Messager zerlegt Stofftiere. Dieses Zerschneiden Glatze. Seine Stiefel sind hinter dem Penis statisch veran-
war mir sehr präsent. Ich erlege mir Regeln auf, Systeme, kert, sodass eine formale Verbindung aufgenommen wird.
denen ich mich verpflichtet fühle. Vor allem schneide ich WF: In deinem Bild sehe ich viel Gewalt, über die Soldaten, die
runden und gespitzten Weißraum aus. Der lange Arbeits- Sexualität, das Entblößen! Bist du das?
prozess hat zu einer extremen Ponderation geführt. Alle BvH: Schmerz, den z.B. zugenähte Frauen ertragen müssen,
Höhen und Achsen sind zentimetergenau berechnet. Für kenne ich nicht. Eine Empfängnissituation mit Cocktail-
mich ist alles auf der Standlinie gehalten. spießen, ein durchbohrtes Herz, diesen Schmerz kenne ich
WF: Deine Auslassungen erinnern mich an meine Baum- psychisch. Ich nehme in meinen Bildern die flehende Geste
stämme um 2007: Es waren damals langsame Zerstörungs- an und hoffe auf Erlösung von dem Übel. So gebe ich meine
vorgänge, die zu meinen Ergebnissen führten! Wie bei dir Schmerzerfahrungen in das Malen hinein.
standen nur noch Inseln, bis am Ende alles weg war. Sind WF: Gab es je Vorwürfe der Blasphemie?
deine Bilder eher Auflösungen oder das Gegenteil? BvH: Wahrscheinlich ist alles zu kompliziert bei mir! Der Gra-
BvH: In diesen Zeiten suchte ich einen Ausdruck für meine natapfel ist die Frucht der Erkenntnis. Das leicht rötliche
Niedergeschlagenheit. Es geht um Verschwinden. Auf Gesicht der Maria verschmilzt mit diesem roten Granat-
Plastikfolien male ich mit Ölfarbe Möglichkeiten und klebe apfel. Ich fand in den durchgeschnittenen Granatäpfeln
sie zum Nachdenken auf die Leinwand. Es ist ein ständiges Membranen, die das Blau der Marien aufnehmen. Die
Ausprobieren. Meine sparsamen Setzungen sind mühsam Abschiedsgeste erhält eine Stigmatisierung mit Granatapfel-
gewonnene Extrakte. kernen. Es war eine große Lust, diese wie mit einer Schrot-
WF: Mir ist aufgefallen, dass es heftig korrigierte Stellen gibt. flinte durchsiebte Hand zu röten. Der Hermaphrodit gibt
BvH: Zu Beginn zeichne ich Hunderte Haltungen von Figuren, sich durch eine Brust zu erkennen, die kugelförmig ist.
etwa eines Hermaphroditen. Welche Achsen bekommen die WF: Es braucht lange, um sich in deiner verschlüsselten
Gliedmaßen? Dann folgt die Kohle auf der Leinwand mit Sprache voller Leid zurechtzufinden. Aus Dir will ganz viel
Vorstellungen von Anschneiden oder Anstoßen an die Lein- heraus, was verschüttet ist. Wenn man dir vorwirft, dass
wandränder. Ich verfestige eine Grundidee, mit Radiergummi deine Bilder an Monumentalität verloren haben, dann muss
und Wegwaschen. Dann gehe ich zu Bleistift über; es folgt die man auf der anderen Seite konstatieren, dass sie ganz viel
Eitempera. Lösungsmittel können alles wegnehmen, sodass an Komplexität gewannen.
wieder Weißraum offen liegt. Die Frau mit den gespreizten BvH: Es ist notwendig, dass Betrachter*innen meine Bilder wie
Beinen war so eine Stelle, eine Verstümmelung, eine Ver- Kurzgeschichten lesen. Blau, Gelb, Rot – diese druckgraphi-
gewaltigung vielleicht, und das Rot des Granatapfels spiegelt sche Entschiedenheit ist wirklich gelungen. Jedes Mal dringe
sich im Intimbereich. Das sind äußerst lange Vorgänge, bis ich in den Gegenstand ein und mache mit ihm so viele Erfah-
ich mich selbst in dieser kleinen Figur finde. rungen, dass mich dieser Einfühlungsprozess verändert.
WF: Unglaublich, wie quälend und aufwändig dieses kleine Bild WF: Es ist ein Rückzug in die Miniatur, ebenso wie in der
zustande kam. Als würdest du eine Skulptur aus einem Stein Zeichnung und im Aquarell. Diese Selbstbeschränkung
schlagen. Ich sehe Verletzungen und offene Wunden, Trauer sehe ich aber nicht als einen Verlust. Deine Verdichtung auf
und Schmerz. Weißt du noch, an welcher Stelle alles begann? das Wesentliche überzeugt. Du wirfst Ballast ab, um über
BvH: Nach vielen sichtbaren Denkbewegungen der fast zeichne- den nächsten Berg zu kommen.
rischen Arbeit mit Eitempera entstand als Erstes der Hunde- BvH: Mein Ziel ist es, in einem Rechteck die Welt zu kompri-
kopf. Die Selbstfigur agiert verhalten. Die Monumentalität mieren. Das ist meine Forschungsarbeit!
von früher existiert nicht mehr, eher eine Zersplitterung. WF: Warum hängen wir so an diesem Rechteck? Offenbar ist es
Für die Stabilität knetete ich einen aus Butter geformten ein Trost, zu wissen, dass es wenigstens hier klare Grenzen
Penis, über den ich mich sehr amüsierte. Die Eichel ist bru- gibt. Das verschafft mir dieses triumphale Gefühl, etwas zu
tal abgeschnitten. Ich überwinde dabei meine Verlustängste. beherrschen.
Manchmal wünschte ich mir, meine Versuchsanordnungen
und Installationen wären haltbar! Ich kochte in Mengen
roten und gelben Wackelpudding für eine Art Gebirgsland-
schaft, wie schon bei der „Isenheimer Spiegelung“. Sehr
viel Gelatine hat diese Köstlichkeit von Rosa und anderen
Farben der Umgebung hervorgebracht. Überall erzähle ich
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