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Kackbraun und Autorennen










                                BvH: Wir sitzen in deinem Ludwigsburger Atelier, wo alle Arbei-  BvH: Schmerz überträgt sich durch Überdehnungen oder auch
                                  ten sorgfältig archiviert sind und schauen auf Zeichnungen,   durch archaische Figuren zwischen Mensch und Tier. Die
                                  die auf Werkdruckpapier gezeichnet sind, etwa 1 x 1,2 m. Die   Zäune spielen eine ähnliche Rolle der Verriegelung wie deine
                                  Kohlezeichnungen haben oft eine Art Abdruck von einer an-  Hakenkreuze, die wie Windmühlenflügel wirken.
                                  deren Zeichnung, die du – wie bei den Transparentpa pieren   WF: Mir passiert es oft beim Zeichnen, dass ich eine Linie, die
                                  – als Ideen- und Sicherheitsgeber nutzt. Ich bin wieder über-  schon etwas meint, in das Neue einbeziehe. Die Mehrdeu-
                                  rascht von deinem heftigen Farbeinsatz: ein „Kack“-Braun,   tigkeit ist ein wichtiger Bestandteil meines künstlerischen
                                  matt, saugend-tief, ganz scharf gesetzt.          Tuns. Ich muss Formen von Bedeutungsebenen befreien,
                                WF: Die Arbeit mit dem „Kack“-Braun verstehe ich heute   um damit künstlerisch umgehen zu können.
                                  als Übergang von der reinen Kohlezeichnung hin zu den   BvH: Mit schöner Rhythmik verteilst du gleichgroße Dinge
                                  Pastellen. Ein Großteil der Kohlezeichnungen entstand   auf der Fläche. Die Farben verschränken sich, oft fast
                                  in einem ehemaligen Hangar der amerikanischen Streit-  druckgraphisch reduziert. Die Leuchtkraft der Pastelle ist
                                  kräfte in Schwäbisch Hall. Der Hohenloher Kunstverein   umwerfend, aggressiv!
                                  hatte mich zu der Ausstellung „Weite Horizonte“ in diese   WF: Da ich empfindlich auf Lösungsmittel reagiere, dauerte es
                                  verlassenen Gebäude eingeladen. Während der Ausstellung   lange, bis ich ein geeignetes farbiges Medium fand: Pastell-
                                  zeichnete ich Tag und Nacht in der völlig maroden Flug-  kreiden. Leider verändert das Fixieren einige helle Farbtöne
                                  aufsichtsbaracke. Der Anstrich blätterte von der Decke,   dermaßen, dass für mich das Fixieren einer Zerstörung
                                  es regnete rein und der Parkettboden hatte sich durch die   gleichkam. Meine Pastelle sind also unfixiert, was ein Aus-
                                  Feuchtigkeit hochgewölbt. Ich musste erst die eingeschlage-  stellen damals fast unmöglich machte. Die meisten meiner
                                  nen Scheiben ersetzen. Draußen fanden illegale Autorennen   Pastelle wurden nie ausgestellt.
                                  statt. Es war wohl das ungute Gefühl, dieser bedrohlichen   BvH: Ich bin begeistert von deiner Fachwerkstruktur mit den
                                  Situation schutzlos ausgeliefert zu sein, das bei mir zu einer   Adventskränzen, vom Auftauchen deiner Brüsteinseln,
                                  besonderen Wachheit führte. Ich musste mich behaupten.   dem Verwischen (vgl. S. 72 - 75).
                                  Es entstanden über 200 Kohlezeichnungen, die jetzt vor uns   WF: Ich entwickelte eine ungewöhnliche Vorgehensweise, um
                                  liegen. Künstlerisch war diese exzessive Arbeitsweise unter   zu meinen Bildideen zu kommen: Schlechtes wird durch-
                                  schwierigen Bedingungen äußerst spannend. Das Zeichnen   gestrichen, Gutes eingerahmt! So legte sich Schicht über
                                  auf Transparentpapier lag damals um 1999 noch vor mir,   Schicht. Nichts in meinen Bildern blieb unantastbar, alles
                                  aber es kündigte sich schon in diesen Blättern an. Ich legte   konnte jederzeit diesem wilden Spiel zum Opfer fallen.
                                  auf die entstandenen Arbeiten ein leeres Blatt und rieb auf   Beides, also das Durchstreichen wie auch das Einrahmen,
                                  der Rückseite. Das gesamte Bild war nun auf ein neues Blatt   sollten zum Erfolg führen. Manchmal blieben nur noch
                                  Papier abgedruckt, schwach sichtbar, aber ausreichend, um   durchgestrichene Rahmen übrig.
                                  daraus neue Bildideen zu entwickeln.
                                BvH: Es ist eine tolle Energie in den Zeichnungen. Wie kam es,
                                  dass du auf dem Boden gearbeitet hast?
                                WF: Das liegt daran, dass ich damals selten ein Blatt auf Anhieb
                                  fertigstellte. Ich verglich mich mit einem Artisten, der mit
                                  Stäben und Tellern jongliert. Je mehr Teller gleichzeitig
                                  oben bleiben, umso besser! Mir ging es darum, die künst-
                                  lerische Aufmerksamkeit auf möglichst viele Aufgaben
                                  zu richten, ohne dabei die Kontrolle über das Gesamte zu
                                  verlieren. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Schachspieler
                                  beim Simultanschach gegen mehrere Gegner gleichzeitig an-
                                  tritt. In meinem Ludwigsburger Atelier setzte ich dann diese
                                  Arbeitsweise fort, geriet in eine Art Zeichenrausch, der eine
                                  riesige Bilderflut nach sich zog. Nicht selten entstanden 50
                                  bis 100 Arbeiten in einer Nacht, die dann um mich herum
                                  auf dem Boden lagen.
                                  Eine Hand streckt ihre Finger aus, Puppenköpfen fehlt der
                                  Körper, Pilze sprießen aus allen Ritzen, Schnecken krabbeln
                                  aus den Intimbereichen, ein abgeschlagener Kopf, eine Zip-
                                  felmütze, viel Phallisches – alles greift ineinander. Masken
                                  aus Afrika mit blauen Muschel-Augen dringen ein, ich war
        „Weite Horizonte“, Gesellschaft für   dabei, die Farbe in mein Werk zu lassen.
        Kunst Hohenlohe, 1999



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