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Lutschen und Klötzchen










     BvH: In deinem Atelier liegen vor uns Bleistift-, Farbstift- und   BvH: Auch bei mir überlagern sich viele Wirklichkeitsebenen
        Ölkreidezeichnungen. Der Bleistift und die Linie spielen   und ergeben etwas Neues. Im Unterschied zu dir muss ich
        eine zentrale Rolle. Nur bei manchen Bildern entwickelst du   allerdings den Gegenstand beobachten. Du kannst ihn aus
        die Formen ganz aus der Farbe. Der Träger ist oft ein Trans-  deiner Vorstellung und aus früheren Arbeiten herausholen.
        parentpapier. Warum brauchst du die Durchsichtigkeit?  WF: Das stimmt: Ich verwende für meine Zeichnungen auf
     WF: Transparente Zeichenpapiere eigenen sich sehr gut zum   Transparentpapier nur selten Vorlagen und zeichne aus der
        Kopieren. Ich kann einzelne Bildelemente von dem einen in   Erinnerung. Dazu biete ich meinem Auge Linien an, über
        das nächste Bild übertragen. Auch das Spiegeln ist kein Prob-  die es entscheidet. Irgendwann stellt sich auf dem Blatt
        lem, ich drehe das Blatt einfach um. So können ganze Serien   eine Ordnung ein, der ich zustimmen kann. Wahrschein-
        entstehen, die den gleichen Ursprung haben – das Bild aus   lich könnte ich auch im Gefängnis arbeiten, wo es keinerlei
        dem Bild. Man denke nur an Comics oder Trickfilme aus der   Anregungen von außen gibt.!
        Zeit, als es noch keine Bildbearbeitungsprogramme gab.   BvH: Mich erinnert diese Lutschszene in deiner Zeichnung an
     BvH: Du magst die Glätte der Papiere, die die Farben leuchten   Pädophilie, eine Art von Entsetzen. Etwas dringt in den
        und den Stift leicht hingleiten lassen. Deine Zeichnungen   Körper eines Kindes ein.
        bekommen zudem etwas Immaterielles.             WF: Oft bin ich selbst überrascht, was meine Bilder alles
     WF: Sobald ich die Rückseite bezeichne, wird den Farben   bereit halten. Sie tauchen aus dem Unterbewusstsein auf.
        durch die Lichtbrechung die Leuchtkraft genommen. Alles   Es schreibt sich etwas in die Bilder hinein, was ganz außer-
        sieht pastellfarben aus, Farbfelder wirken flächig und ohne   halb meiner Vorstellungen, Erwartungen und eigenen
        Struktur, Bildgegenstände wie in die Ferne gerückt. Damit   Erfahrungen liegt.
        schaffe ich Distanz.                            BvH: Wahrscheinlich denke ich mehr nach als Du, finde
     BvH: Hier haben wir ein Blatt mit einem seltsamen Klang,   in mir Geschichten, Biographisches, Gesellschaftliches.
        Senfgelb und Violett! Dazu ein schrilles Rosa. Durch das   Schmerzhaftes taucht auf und legt sich auf das Visuelle vor
        Einreiben von Graphitschwarz hast du alles verschattet. Es   mir. Du denkst sicher keine Sätze beim Tun!
        befremdet die scheinbar lustige Welt. Inhaltlich verschiebt   WF: Bei mir spielt sich alles mehr auf der formalen und
        es sich durch das Umdrehen der Figuren, die nun wie    weniger auf der inhaltlichen Ebene ab. Ich halte Abstand
        Folteropfer hängen.                               zu meinen Figuren und denke auch nicht in Erzählungen,
     WF: Mit dem Verschatten der Formen erreiche ich Plastizität.   sondern in Gegebenheiten. Das eine passt zu dem anderen,
        Die farbig angelegten Formen scheinen von innen her zu   weil es eine formale Notwendigkeit gibt, keine Geschichte,
        leuchten. Das erzeugt eine beunruhigende, eine unheimliche   das wäre mir zu literarisch.
        Stimmung in meinen Bildern. Das Oben und Unten lege ich   BvH: Heute müssen wir uns noch mehr vor der Bilderflut
        erst sehr spät fest. Dadurch kommt die gesamte Bildlogik   schützen, um nicht immer mehr traumatisiert zu werden.
        wieder durcheinander.                             Ich bin durchlässiger für Weltgeschehen.
     BvH: Manchmal lässt du Mehrphasigkeit entstehen, die    WF: Auch wenn mich äußere Störungen nicht unberührt lassen,
        Bewegung vermittelt. Beim genauen Hinschauen bleibt   ich versuche sie mit dem nötigen Abstand zu betrachten.
        ambivalent, ob es sich um ein Streicheln oder ein Drücken
        in einer Geste handelt. In der Mimik deiner Figuren ist
        kein Schematismus. Kleine Nuancen lassen etwas kippen. Du
        steuerst mit Blickachsen; Zehen berühren ein Ding; Elemente
        wirken durch deine Schattengebung wie Scheiben. Du füllst
        Zwischenräume zu neuen, unbekannten Formen und du
        klebst Figuren aneinander. Solche Findungen wären bei
        Kindern nicht möglich.
     WF: Auch wenn ich mich in manchen Zeichnungen einer
        kindlichen Mal- und Zeichenweise bediene, so zeichne ich
        doch mit dem Bewusstsein eines Erwachsenen. Durch die
        vielen graphischen Möglichkeiten, die mir das Transparent-
        papier bietet, kann ich planerisch vorgehen und sehr präzise
        Kompositionen anlegen. Es ist ein Bauen, ein Zuordnen, ein
        Umdeuten und Benennen. Beim Kohlezeichnen entscheide
        ich mich spontaner.
     BvH: Warum hattest du keine Angst davor, dekorativ zu werden?                             o.T., 2002,
     WF: In meinen Bildern herrschen in gewisser Weise anarchi-                                Bleistift auf Transparentpapier,
        sche Zustände, die mich davor bewahren, gefällig zu wer-                               30 x 42 cm
        den. Dem Dekorativen haftet immer etwas Oberflächliches
        und Berechenbares an, das ich nicht mag; ein sinnentleertes                            o.T., 2002,
        Tun, das sich in sich selbst erschöpft, ohne jeden Humor.                              Farbstift auf Transparentpapier,
                                                                                               30 x 42 cm
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