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Santa Maria 2022









      BvH: Du warst gerade vier Wochen in Santa Maria, in Grau-  BvH: Für das Ende am unteren Bildrand findest du Begren-
        bünden, an der Grenze zu Südtirol. Die Einsamkeit war   zungen. Die Berge lagern, ohne dass es einen klassischen
        eine besondere Art der Herausforderung. Die Landschaft   Vordergrund gäbe. Aus den Videos weiß ich über das fast
        wurde dann tatsächlich Anlass zum Zeichnen. Fast 300   Automatische deines Tuns. Du lässt die Linien fließen.
        A2-Blätter sind entstanden! Du hast weitere Panoramen   WF: Wenn ich zeichne, ist mein Stift fast immer auf dem
        aufgenommen und starke Musikstücke entwickelt.    Papier. Der Kontakt und damit der Energiefluss sollen nicht
      WF: Nach über einem Jahr Pandemie war dieser Aufenthalt   unterbrochen werden. Die Landschaft taste ich förmlich mit
        eine Art Ausbruch. Ohne Maske fühlte ich mich wie befreit   meinen Augen ab und zeichne dann aus der Erinnerung.
        von einer schweren Last. Ich kam mitten in der Schnee-  Das Bild ist in mir, wie ein langer Zahlencode. Zeichnen
        schmelze an: Schneereste und der nackte schwarze Fels,   und Sehen, beides geschieht gleichzeitig. Ich kann etwas
        kaum Farbe, nur dieser starke Hell-Dunkel-Kontrast.   von hinten nach vorne aufrollen und umgekehrt. Ich stelle
        Meine Zeichenkohle passte wunderbar dazu. Während der   mir nicht einen Baum, einen Berg oder einen Menschen
        einsamen Tage in den Bergen sagte ich nahezu nichts, nur   vor. Damit wäre ich im begrifflichen Denken, und das
        beim Einkaufen hin und wieder ein paar Worte. Der Klang   Zeichnen wäre das Bebildern dieser Vorstellungen. Davon
        meiner eigenen Stimme wurde mir immer fremder. Ich   will ich mich als Zeichner befreien.
        kam auf die Idee, Videos über mein Zeichnen zu drehen.   BvH: Du umrandest nicht, sondern gehst immer vom Innen-
        Das Handy an der Windschutzscheibe oder auf einem   bereich aus, also von Bewegungen.
        Stativ – mehr brauchte es dazu nicht. In meinen Videos   WF: Ähnlich wie bei van Gogh versuche ich, es von innen her-
        bin ich eine Kunstfigur, die mit sich und der Situation vor   aus wachsen zu lassen. Kohle ist mir lieber als Kreide, weil
        Ort kämpft und dabei das Scheitern ironisch thematisiert.   sie spröder ist. Ich mag dieses kratzende Geräusch und den
        Widersprüchliches prallt unvermittelt aufeinander: Biker   Widerstand beim Zeichnen, was zu einer Entschleunigung
        rundherum, Wohnmobile, brutale Eingriffe des Menschen   des Zeichenvorgangs führt. Neben den Auseinandersetzun-
        in die Natur, dazu die atemraubende Schönheit, trotz aller   gen mit dem Material gibt es die äußeren Widerstände wie
        Umweltzerstörungen. Das Zeichnen wird zu einer intensiven   Wind und Regen. Dann geht es oft nur noch um das reine
        Naturerfahrung. Die permanente Veränderung der Wolken-  Durchhalten und Wehren. Auch Menschen können störend
        formationen, der wechselnde Lichteinfall, aufkommender   sein. Insgesamt schätze ich an diesen einsamen Tagen die
        Regen, die Schneeschmelze, alles nahm ich in mir auf und   Leere, die sich innerlich auftut.
        spürte diesem natürlichen Rhythmus nach. Scheitern heißt
        hier: festhalten zu wollen, wo alles in Bewegung ist. Mich
        haben vor allem die sichtbaren Ergebnisse der letzten 50
        Millionen Jahre Erdgeschichte beeindruckt: Felsformatio-
        nen, Gesteinsschichtungen und Geröll, das sich seinen Weg
        bis ins Tal gebahnt hat. Nachdem mir das Papier an einem
        fast vollkommen ausgetrockneten Flussbett ausgegangen
        war, beschloss ich, mit Wasser auf Felsbrocken zu zeichnen
        – am Ende sogar mit meiner eigenen Körperflüssigkeit. Ich
        zeichnete also etwas, das sich ganz von selbst wieder auflöst.
        Dieses Bedürfnis, etwas zu tun, was sich selbst genügt, ist
        nicht neu in meiner künstlerischen Arbeit.
      BvH: Es gibt eine Entwicklung hin zu einer Verschmelzung
        von Wolken und Bergen. Du hast in der letzten Woche
        diese Ähnlichkeit herausgefunden. Deine Himmel wurden
        immer skulpturaler. Es gibt keine Maßstäblichkeit in deinen
        Bildern. Die Größe der Dinge bleibt offen.
      WF: In meinen Zeichnungen geht es mir weniger um das
        Abbilden als um das Sinnbild dessen, was ich vor mir
        habe. Ich strebe keine Narrationen an. Meine Berge sind
        Ansammlungen von Linien, die in ganz besonderer Weise
        unter ganz bestimmten Bedingungen einander zugeordnet
        sind. Ich dachte immer wieder an die ornamentalisierten
        Wolken von Ferdinand Hodler und die schweren Wolken
        von Vincent van Gogh.
                                                              Lü, der Film I, 2022                          o.T., 2022
                                                              Spieldauer: 26:48 Min.                        Kohle, 42 x 59,6 cm




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