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Videos 2022/23
BvH: In Sta. Maria 2022 wähltest du auch das Mittel Film und ckungen im Verborgenen. Die vorbeifahrenden Motorräder
wolltest das Zeichnen als Wirklichkeitsaneignung einbringen. schaffen eine bedrückende, brodelnde Grundstimmung.
Zudem schneidest du Passagen hinein, in denen du den Das Geläut der Kühe schiebt sich in diese Enge. Manchmal
Betrachter ansprichst und mitnimmst auf deine Autofahrten. wirken sie wie Kompositionen mit klaren Strukturen. Die
WF: Sobald eine Kamera läuft, bin ich konzentrierter und auf- Kühe grasen, verscheuchen Fliegen oder legen sich hin, also
merksamer. Die Zeichnungen zeigen die Ausbreitung meiner innere und äußere Notwendigkeiten, die Klänge hervor-
Linien auf dem Papier. Das Sprechen hilft mir, mein Bewusst- bringen. Deshalb ist es für mich auch keine Alpenidylle.
sein abzulenken. Im Auto war die Ton- und Bildqualität der BvH: Ich selbst habe mich in den Zerrspiegeln als kuhähnlich
Handy-Aufnahmen erstaunlich gut. empfunden, mit großen Nasenlöchern, Ohren, träge. Die
BvH: Ich spüre eine große Spiellust, denn du hast rhythmisch Übereinstimmungen fanden ihre Entsprechungen in der
geschnitten. Inhaltlich wurden die Filme weniger existen- Tonspur. Ich bin eine Kuh, und irgendwann fängt es an zu
ziell bohrend als vielmehr witzig. Du kokettierst mit dem läuten. Ich wollte keinen künstlichen Sound darüberlegen.
Thema Scheitern, obwohl du beeindruckend fließend WF: Da ist ein Befremden, etwas Bedrängendes. Und ich finde
zeichnest und die Auge-Hand-Koordination vorführst. es richtig, dass du dich auf wenige, rhythmisch verwobene
WF: Die riesigen Berge auf A2-Formate zu bannen, schien mir Beobachtungen beschränkt hast, obwohl das Material für
unmöglich! Die ständigen Anläufe, denen auf irgendeine ein Vielfaches an Filmlänge gereicht hätte. Du hast dich
Weise doch gerecht zu werden, bezeichnete ich eher ironisch bewusst gegen eine Handlung entschieden. Wenn ich beide
als Scheitern. Es war die Freude über die wiedergewonnene Filme vergleiche, ist der „Dobermann am Umbrail“ tech-
Handzeichnung nach fast zehn Jahren. nisch anspruchsvoller, geheimnisvoller, witziger und expres-
BvH: Ich versuchte in Bergen, meine Installationen in lastende siver. „Scham in Bergen“ ist dagegen intimer. In beiden bist
Formen im Aquarell zu überführen. Ich fand deine Idee du erfrischend anders als vieles in der heutigen Videokunst.
großartig, mir deine Kameras in die Hand zu geben, um BvH: Es ist eine Selbstbefragung. Die Kamera ist wie eine Art
meine gebauten Welten filmisch zu erhalten. Ich war un- Körperteil von mir, die mich gleichzeitig verstellt, mich tech-
vorbereitet beim gleichzeitigen Fokussieren und Sprechen. nisiert oder in ein animalisches Wesen verwandelt. In den
Es waren dann die Extrakte von wochenlangen, kreisenden Filmen erscheine ich ähnlich fremd wie in meinen Bildern.
Gedanken, ungefiltert, direkt, nicht ironisch gebrochen. Das
stunden lange Material sichtete ich erst im zeitlichen Abstand
und notierte mir gelungene Sequenzen. Es wurde ein „Ab- S. 160 und 161
wandern“ des installierten Kosmos und eine Komprimierung
auf etwa sieben Minuten. Auf keinen Fall sollte es ein thera- Umbrail, der Film, 2022
Spieldauer: 13:42 Min.
peutisches Resultat werden.
WF: Ich fand deine Aneignung des fremden Mediums beein- Lü, der Film I, 2022
druckend. Das Wackeln der Kamera durch die Handfüh- Spieldauer: 26:48 Min.
rung oder das manchmal unscharfe Schwenken wurden zur Lü, 2022
authentischen Annäherung an deine Versuchsanordnung. Spieldauer: 13:15 Min.
Dein Film hat dadurch etwas Unschuldiges. Selbst die zu-
fälligen Raumgeräusche gehören dazu. Äußerst intensiv Graun, 2022
Spieldauer: 8:02 Min.
hast du dich in den vier Wochen mit der großen Installa-
tion auseinandergesetzt. Ohne dieses Ringen wäre dein tief Hauskonzert I, 2022
berührendes Video nicht möglich gewesen. Spieldauer: 2:11 Min.
BvH: Ich habe mich gegen eine Glättung durch Effekte entschie-
den. Ich schlüpfe in die Figuren, die zu leben scheinen. Ganz Walldorf 1 u. 6, 2022
Spieldauer: 2:35 Min.
bewusst zeige ich mich und synchronisierte die sichtbaren
Lippenbewegungen mit dem Gesprochenen. Umbrail, Distel, 2023
Der zweite Film „Dobermann am Umbrail“ ist distanzierter, Spieldauer: 7:44 Min.
kalkulierter, rhythmisierter. Ich setzte gerne dein Stativ ein, Bergen, Fladen, 2023
um die Eigenbewegung der Dinge zu betonen, etwa das Spieldauer: 8:24 Min.
Zittern im Lufthauch oder meine Annäherungen an den
Toilettenpapierhalter. Diese Passagen wechseln mit der Bergen, Schaum, 2023 S. 162
Spieldauer: 6:26 Min.
ruckenden Handführung, etwa, wenn ich mich in den Kugeln Scham in Bergen, 2023
suche oder meine Zeichnungen abtaste. Anders als du filmte Bergen, Bär, 2023 Spieldauer: 7:26 Min.
ich fertige Zeichnungen und nicht den Zeichenprozess, weil Spieldauer: 4:21 Min.
er bei mir sich oft über mehr als zehn Stunden hinzieht. Ich mit mir, 2022 S. 163
WF: Deine Aufbauten sind im Grunde Stillleben, die ein Eigen- Spieldauer: 3:23 Min. Dobermann am Umbrail, 2023,
Spieldauer: 7:56 Min.
leben haben. Du erzählst mit der Kamera von deinen Entde-
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