Page 34 - neu 9.4.2024 textkorrektur.indd
P. 34
„Magdalena am Krater“
Eitempera und Öl auf Leinwand, 190 x 240 cm, 2019
BvH: Ich habe ein ganzes Jahr an dieser Leinwand gearbeitet! Ich
wollte die heilige Magdalena malen, wie Tilman Riemenschneider
sie in seiner sensationellen Holzplastik im Nationalmuseum
München sah. Er gab ihr animalische Beine, den Schafen ähn-
lich, die unbehaarten Knie treten vor. Er entsexualisiert die
Frau; sie verliert ihre Weiblichkeit bis auf die Brüste. Diese ehe-
malige Prostituierte war mutmaßlich Jesus´ Geliebte. Ich ließ
mir in einem Selbstversuch die Beinhaare so lang wie möglich
wachsen, um sie genau zu beobachten. In den Schambereich
krabbeln Marien hinein. Es ist eine sehr seltsame Findung, um
diesen intimen Bereich zu betonen! Magdalena hockt, und vor
ihr stehen ihre Beine. Sie beobachtet die Betrachter*innen und
trägt viele Ich-Figuren in sich, unbekleidet, fallend, schwebend,
sich schützend oder mit stark geöffneten Beinen.
Hakenkreuze erscheinen überall, wie Tattoos perspektivisch
verzogen. Dazu platziere ich Soldaten mit Schusswaffen, nackte
Trauernde nach einer Erschießung. Ganz unten markiere ich
einen Abgrund, einen Trichter oder einen Krater, der dem Bild
den Namen gibt. Schwärze führe ich über die Rabenvögel und
die Schläuche ein. Die hochintelligenten Tiere – Todesboten
in der Zuschreibung – drehe ich zur Kugel, um mir eine Art
Sonnenfinsternis zu erschaffen. Das Rot, Gelb und Hellblau hat
für mich die Stimmung der Friedrich´schen Abendhimmel.
Plastiktüten umhüllen Dinge, die sich optisch verschmelzen.
Die Strumpfhose empfinde ich wie einen Körper in Pontormo-
Farben, auf den ich schaue. Das (Menstruations-)Blut rinnt aus
dem Körper. Überall stechen Pikser in die Beine und Scheide.
Die Füße sind Teil eingefrorener Bewegungen und verbinden die
agierende Figur mit der Magdalena. Fruchtig-saftige Pfirsiche,
die wie Vulven aussehen, durchstochen von Spießen, eine
rosa-gelbe Plastiktüte, Fellstoff oder von meiner Großmutter
gestrickte Wollunterhosen zeigen meine Lust an der Haptik.
Strahlenförmig und explosiv scheint alles, einer zentrifugalen
Kraft folgend, aus der Mitte über die Bildränder hinauszustre-
ben. Das Lamm, wie auf dem Genter Altar, schwebt wie mein
gemalter Säugling zwischen Leben und Tod.
Ich messe und konstruiere viel, benutze meterlange Holzleisten,
um zu Fluchtpunkten hinzuführen. Es entsteht eine Aneinan-
derreihung der Dinge oder Strudel an diesen Achsen entlang,
um Raumillusion zu erschaffen. Vor Beginn lege ich fest, in
welcher Höhe der Betrachter*innenstandpunkt liegt, mit
zunehmendem Auf- und Unterblick.
WF: Deine detaillierten Beschreibungen verdeutlichen, was für
eine immense gedankliche Arbeit einem Bild vorausgeht und
parallel einfließt. Bei längerer Betrachtung lässt sich exakt in
der Mitte des Bildes das Zentrum eines Strudels ausmachen.
Aus diesem Wirbel werden die Formen geschleudert. Von links
scheint eine Art Schneise dein Bild zu durchkreuzen, deren
Fluchtpunkt außerhalb des Bildes liegt. Leicht schräg darüber
eine zweite Schnittfläche, in der eine Anhäufung von Bettina-
darstellungen zu finden ist. Gerne lasse ich mich auf einzelne
Bildstellen wie das Hundefell oder die Raben ein, die mit einer
großen Zuwendung gemalt sind. Alles steht im Saft, du bist am
Zenit deines Malens angekommen.
Tilman Riemenschneider,
Maria Magdalena, 1490/1492,
Bayrisches Nationalmuseum
32