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„Neulamm — Isenheimer Spiegelung“
Eitempera und Öl auf Leinwand, 110 x 80 cm, 2016
WF: Faszinierend, deine aufblasbaren Plastikformen! Die
Folienschläuche erinnern an eine Rutsche im Spaßbad.
Es zeigt sich reine Malerei in den farbigen Reflexen der
künstlichen Oberflächen!
BvH: Zudem ist es ein Spiel mit Schwere. Das aufgeblasene Ding
ist platziert und könnte doch von einem Luftstoß davonge-
tragen werden.
WF: Mir kommen leere und durchlöcherte Körper in den Sinn,
die schwerelos im Weltall treiben. Auch deine Tierpräparate
hier im Atelier sind nur noch leblose Hüllen, erstarrt in
einer einzigen Bewegung.
BvH: Ich selbst agiere in meinen Bildern. Es sind Ergebnisse
von Bewegung, die Aktion wirkt gegen den Stillstand, die
Verletzung und den Verlust. Schau dir diese seltsamen
Geschichten vom Eindringen an.
WF: Soldaten formieren sich zu einer Art pentagonaler
Strukturformel.
BvH: Für mich ist es eine militärische Aufstellung oder eine
Fallschirmspringerintervention – das Individuum ver-
schwindet in der Masse. Ich mag die gehäkelten Partien,
etwa den „Hortus Conclusus“, einen abgetrennten Bereich,
oder die Decke, die über dem Säugling liegt. Das Weiß wird
wieder dinglich. Nächtliches Schwarz sollte unbedingt in
das Bild wie bei Franz Radziwill oder Albrecht Altdorfer. Ich
entwickelte ein Gebirgsstück. Die Berggipfel entsprechen den
Häkelkanten darüber; rote Rosen ergeben die Wundmale
Christi. Die Kombination aus Blut und Nagellack ist herrlich
schräg! Überall denke ich an die Farbigkeit von Grünewald,
etwa in den grünlichen Beinadern. Sie haben mit ihrer Netz-
struktur Parallelen zu der Soldatenformation.
Zudem möchte ich von der mythologischen Gestalt Daphne
sprechen, die vor Apoll flieht und als Baum überlebt. Ich
deute die Metamorphose um und lasse aus dem Lamm und
der Ich-Figur Marien wachsen. Mit der Daphne gehe ich seit
Jahrzehnten um: Es muss nicht der Lorbeerbaum sein, nur
etwas Fremdes, das sie bewegungsunfähig macht.
WF: Gut ist, dass du überall Spuren des Prozesses und des
Nachdenkens stehen lässt und nicht tilgst. Unweigerlich
denke ich bei deiner Vielfigürlichkeit an Hieronymus Bosch.
Doch er hätte nicht diese Farben gemalt oder sie sich über-
haupt vorstellen können. Sie gehören in unsere Zeit.