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Synergie
Nana Seeber
„Wer kollaboriert oder kollektiv Dinge realisiert, sieht im Beide streben ständig nach einem Erkenntnisgewinn, mit dem
Kollektiv die Verstärkung des eigenen Willens. Diese kollektive Wissen, „[d]as Scheitern ist der Kunst immanent. Im Grunde
Identität profitiert gerade davon, dass Individuen mit unter- ist jede Zeichnung nicht mehr als ein Erklärungsversuch.“
schiedlichem Background in einen freien Dialog mit offenem (Wolfgang Folmer). Es gibt nicht die eine Antwort, eine ein-
Ende treten, bei dem Wissen, Ideen, Vorstellungen, Gedanken, deutige Sinngebung, sondern mannigfaltige Deutungsansätze.
Vorschläge, Bedürfnisse und Wünsche ausgetauscht und zu Sie versuchen, die Welt für sich zu verstehen, den Anderen zu
Ressourcen werden, auf die jeder Zugriff hat. Alles, was in der verstehen, sich selbst durch den Anderen zu verstehen, um
Runde kursiert, kann Auslöser für die Realisierung gemein- bekannte Ansichten zu durchdringen und ungewohnte Blick-
schaftlich konzipierter Projekte, Werke, Festivals oder Ausstel- winkel einzunehmen. Das ist kein oberflächliches Kratzen,
lungen werden.“ 1 sondern ein Eintauchen, ein Ineinanderverschränken und
Verschmelzen.
Diese Kraft des intensiven Austausches und der Zusammen-
arbeit als Duo erfahren die Künstlerin Bettina van Haaren und „Unsere Kunst ist eher von existenzieller Relevanz, bohrend,
der Künstler Wolfgang Folmer. Sie treten über das Medium der weniger von gefälliger Interessantheit. Wir hatten beide das
Sprache und der Linie in einen Dialog. Uns bietet sich die Gele- Gefühl, nicht mehr gesehen zu werden.“ (Bettina van Haaren)
genheit, die Bereicherung ihrer künstlerischen Kooperationen
einerseits durch den besonderen Einblick in ihre Gespräche Die Begegnung von Bettina van Haaren und Wolfgang
und andererseits durch ihre herausragenden Wandzeichnungen Folmer fand während der Coronapandemie, einer Zeit der
zu erleben. Isolation statt, in der sich das Bedürfnis nach Austausch und
Zwei starke Positionen treffen aufeinander mit ganz unter- Verbundenheit verstärkte. Sie besuchten einander in ihren
schiedlichen, fast konträren Herangehensweisen. Bettina van Ateliers und Einzelausstellungen, um unmittelbar vor den
Haaren agiert entschleunigt, konzentriert, durchdacht, ziel- Werken zu sprechen. Daraus resultierten zahlreiche Tonauf-
gerichtet, wohingegen Wolfgang Folmer deutlich spontaner, nahmen, die transkribiert Eingang in dieses Buch fanden.
impulsiver, rasanter, aber nicht weniger präzise vorgeht. Das Betrachten und Sprechen vor Ort verleiht ihren Dialogen
Bedeutsamkeit und Authentizität. Die beiden Künstler*innen
Die zeichnerische Annäherung an die Welt. Die Linie als diskutieren über ihre Lehransätze, den Kunstbetrieb, spre-
Übersetzung von Alltagsgegenständen aus diversen Bereichen. chen über ihr Kennenlernen, das Studium und ihre unter-
Sich unmittelbar davor positionieren. Das Nebeneinander, die schiedlichen Ausdrucksmedien wie Hochdruck, Malerei,
Überlagerung, Verschränkung, Wiederholung und Gleich- Aquarell, Pastell oder Video.
stellung dieser Bildgegenstände. Das Konstruieren eigener Das gemeinsame Nachdenken und intensive Diskutieren über
Räume. Bizarre, groteske Szenarien. Druckgraphische und ihre Sichtweisen und die Kunst waren so tiefgründig, dass
malerische Explorationen. Die tiefgehende Auseinandersetzung sie Ende des Jahres 2021 beschlossen, all dies in die Öffent-
mit historischen und zeitgenössischen Ereignissen. Sich selbst lichkeit zu geben. Bettina van Haaren und Wolfgang Folmer
einbeziehen. Spuren stehen lassen. Die bewusste Setzung. Das finden treffende Worte, um ihre Handlungen und Wahrneh-
Gewöhnliche in ungewohnte Kontexte stellen. Neue Zusam- mungen zu beschreiben. Im Austausch wird die eigene künst-
menhänge und Aussagen schaffen. Das kontinuierliche Prüfen. lerische Position hinterfragt.
Die ständige Suche nach Herausforderungen und Abenteuern. Sie vergleichen ihre Herangehensweisen, Haltungen und
Reibungen und Spannungen aushalten und daran wachsen. Sichtweisen, grenzen sich voneinander ab, ohne dabei dogma-
Das bohrende Untersuchen von Bekanntem und Unbekann- tisch auf den anderen einzuwirken.
tem. Das unergründbare Ertasten, Erkunden, Erforschen. Das „Wenn sich ausgereifte künstlerische Positionen begegnen,
Entsetzen über Grausamkeit und Gewalt. Das Fragmentarische, besteht auch nicht die Gefahr der Anpassung, der Bevormun-
Auflösende, Zerstörte. Die Freude an absurden Dingen und die dung oder Gleichschaltung. Ich sehe da eher das Gegenteil:
außergewöhnliche Begeisterungsfähigkeit. Nach Erklärungen Wir verunsichern uns und sind aufgefordert, uns der eigenen
suchen und immer wieder das scheinbare Scheitern. künstlerischen Position zu vergewissern.“ (Wolfgang Folmer)
All das verbindet Bettina van Haaren und Wolfgang Folmer.
Voller Neugier begegnen sie ihrer Umgebung, wollen Neues Gleichzeitig beeinflussen sie einander, wachsen mit und lernen
entdecken und versuchen, zu verstehen. durch den Anderen. Stillstand gibt es nicht. Sie laden uns ein,
Fragen. Fragen stellen, befragen, sich selbst hinterfragen, das tief in ihre persönlichen Gedankenwelten einzutauchen, ihre
Gegenüber ausfragen, sich gegenseitig erfragen, die Welt in- Prozesse, Vorgehensweisen und Inspirationen zu verstehen, die
frage stellen. Fragen stellen. Fragen. Vielschichtigkeit ihrer Themen zu entdecken und ihre gemein-
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