Page 138 - neu 9.4.2024 textkorrektur.indd
P. 138

„Kein Außen mehr“




       Zeichnungen 2020 – 2023, Kunstmuseum Albstadt 04.05. – 03.09.2023





    BvH: Wir sitzen vor den beiden Wandbildern, die ich in den   es dem Betrachtenden offen, wie er deine Andeutungen
       letzten zwei Wochen, meist zwölf Stunden am Tag, zeich-  liest. Man könnte beispielsweise auch denken, die Figur in
       nete. Die erste Wand, „Erweiterte Luft“, konfrontiert einen   der Mitte stände nicht im Wasser, sondern in der Pisse!
       mit einer leicht überlebensgroßen Selbst-Figur. Die zweite   BvH: Der Betrachtende hat zunächst Distanz zu meinen
       Arbeit, „Tinnitus im Feld“, ist landschaftlicher. Zu den beiden   Wandzeichnungen, weil sie einen hohen Abstraktionsgrad
       Wandzeichnungen habe ich knapp vierzig gerahmte Zeich-  besitzen – erst beim längeren Nachfühlen fasst es einen an.
       nungen aus den letzten drei Jahren ausgewählt, die für sich   Ich nehme alle Linien ernst, auch wenn ich bei manchen
       gültig, jedoch auch der Ursprung der Wandarbeiten sind.   Kürzeln nicht mehr weiß, was sie bedeutet haben.
    WF: Der erste Eindruck ist: Reduktion. Keine Farbe, fast keine   WF: Vor Jahren musste ich in einer Auftragsarbeit japanische
       Oberflächenbeschreibungen über Struktur, keine Flächen.   Schriftzeichen auf einen Baumstumpf schnitzen. Ich wusste
       Du hast alles über Wochen detailliert vorbereitet.  also nicht, was ich da schreibe und wie es zu lesen ist. Es
    BvH: Aber dann verlief der Prozess extrem offen! Die Selbst-  waren für mich reine Linien, die ich jedoch mit der glei-
       figur durchlief viele Überarbeitungen und Veränderungen   chen Ernsthaftigkeit ausführte, wie jede andere Linie auch,
       mit dem Setzen und Wieder-Wegnehmen über die weiße   die mir etwas besagt. Plausibel bleiben deine Zeichnungen
       Wandfarbe. Eine Hand, die den Penis umfasst, die Armhal-  dennoch auf einer anderen, einer künstlerischen Ebene.
       tung, das Gesicht im Ausdruck, die Innenbeschreibung des   BvH: Wir beide suchen Hinwendung und Abstoßung, Nähe
       Korpus und der Beine – alles ist neu gedacht während des   und dann wieder nur die Andeutung.
       Tuns. Ich rang um viele Handhaltungen, etwa der Betenden,   WF: Reine Kopfgeburten sind mir zu simpel. Die Welt ist nicht
       der Gefesselten, der Übereinanderliegenden. Ich setzte neue   in einfachen Formeln oder Parolen zu fassen.
       Figuren ein, ließ Partien weg. Man bemerkt die Unterschiede   BvH: Es muss eine Ordnung geben, ein System, eine Grund-
       in der Souveränität, in der Gewissheit der Strichführung.  struktur. Wir addieren nicht nur, streuen, sammeln nicht
    WF: Wenn ich mich nähere, kann ich viele Stellen „heraus-  nur, sondern bauen. Wir geben eine Bedeutung, deuten
       schälen“ und für sich stehen lassen. Aus geringer Distanz   um, wollen nicht eine einzelne Idee. Bei mir ist es wie eine
       tauche ich in deine Welt ein, in der sich alles Mögliche   größere Partitur.
       gerade ereignet oder bereits geschehen ist. Wesentlich ist   WF: Du nimmst auf, stellst fest und trägst deine Überlegungen
       die Brüchigkeit deiner Wandbilder. „Tinnitus im Feld“ wirkt   in deine Beobachtungsliste „Bild“ ein. Das geschieht ana-
       wie niedergeschrieben: zügiger, entschlossener. „Erweiterte   lytisch, ohne künstlerischen Plauderton. Vergangenheit,
       Luft“ ist stofflicher, manchmal wie vom Licht aufgelöst,   Gegenwart und Zukunft scheinen bei dir zu einer Linie
       etwa im Korpus, weniger geschlossen. Manche Formen   zusammenzulaufen.
       und Gestalten verbinden sich durch Öffnungen mit dem   BvH: Die Martyrien der Heiligen spüre ich körperlich. Diese
       Weißraum. Der rechte Fuß wirkt wie ein Trieb, der aus einer   Grausamkeiten wie das Abtrennen von Köpfen, Händen,
       Pflanze herauswächst. Es ist gut, dass die kleine hockende   Zungen finden immer noch statt. Mit der Linie kann ich
       Figur die gleiche Achse hat wie die Füße der Selbstfigur und   erzählen, weil sie distanziert. Die Menschen, die zur Hin-
       mit dem Aufsetzen auf die Fußleiste Statik schafft.    richtung gefesselt sind, werden wie auf Rechenstäben auf-
       Traumähnlich zieht ein großer Strom an Eindrücken und   gefädelt. Sie sind anonym und Teil der Masse.
       Bildern an einem vorbei. Nur Teile lassen sich kurz er-  WF: Dein Bild ist sehr streng durchstrukturiert. Ich sehe große
       haschen, bevor sie wieder verschwinden. Als würdest du   Diagonalen. Deine Lücken im Gewebe erinnern an teil-
       versuchen wollen, Wasser festzuhalten, was aber nicht gelingt.   weise zerstörte Fresken. Ich stelle mir das Bild im Idealzu-
       Ich sehe eine Art Dreieckskomposition: Die Spitze ist das   stand vor, fülle die Lücken zwischen den Erzählungen mit
       Maschinengewehr; die Flanken enden in der kauernden Figur   meinen eigenen Gedanken. Es sind Berichte über das Leben
       und bei den Füßen der Selbstfigur, wie Ankerpunkte im   in all seinen Facetten. Dein Pinselstrich ist gegenüber den
       Bild. Dieses Bild zeigt weniger Grausames als „Tinnitus im   ersten Wandzeichnungen mit Farbstift viel lebendiger und
       Feld“ mit seinen Hinrichtungs- und Folterszenen. Vielmehr   organischer geworden. Deine Zeichnungen sind Angebote
       ist die „Erweiterte Luft“ von Sexualität bestimmt. Gewalt    an die Betrachter*innen. Es sind Möglichkeiten im Kopf,
       begegnet einem nur in Andeutungen.                die Welt neu zu denken. Also nichts, was mich vereinnahmt,
    BvH: Es ist befremdlich, was hier passiert: Schau dir die vielen   manipuliert oder überredet.
       Pissenden an, sie führen ihren Penis an die Frau und an
       die Ohren der Hunde, wie Saugnäpfe oder Stecker. Sexuali-
       tät in verschiedenen Formen führt zu Schamhaftigkeit der
         Hockenden.
    WF: Deine Zeichnungen wirken nicht anstößig – erstaunlich!
       Mir fällt der Begriff der Gleichmütigkeit dazu ein. Du lässt





                                                  136
   133   134   135   136   137   138   139   140   141   142   143