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Rom, E-Mails, Oktober 2022 ich über vier Stunden konzentriert gearbeitet und wollte
dann an einem anderen Ort weitermachen. Es kamen über
BvH: Heute bin ich fünf Stunden ohne Strich herumgelaufen. fünf Stunden Suche, mal ein paar Striche, dann Nieselregen,
Dann doch noch ein wenig auf dem Kapitol, dann wieder Langeweile, Dämmerung, zu dunkle Kirchen, Aufgeben.
Kirchen, mit zwei Rausschmissen vor der offiziellen Zeit. Hier sehe ich sehr viel Obdachlosigkeit und finde keine
Die Decke von Pietro da Cortona ist nur virtuos; ich zeichnerischen Mittel dafür. Ich will keine Deko und
konnte keinen Schmerz entdecken. Trotzdem saß ich vier verkämpfe mich mit mir selbst.
Stunden im Palazzo. Dann begann wieder die Endlossuche: WF: Wenn du berichtest, fühlt sich das für mich an, als würdest
erst im Borghesepark (ein paar Bäume), dann den Rom- du eine Sandburg bauen wollen. Erst ist alles schön fest und
Wolf auf der Piazza del Popolo, dann in der Santa Maria del bestimmt, dann kommt die Sonne, erwärmt den Sand und
Popolo ein paar Liegende, dann wieder Rausschmiss, dann alles beginnt in sich zusammenzusinken. So sieht der Tag
zwei Stunden mit aller Kraft Suche nach einem geschützten, für dich in Rom aus. Du gehst voller Hoffnungen und
hellen Raum, da bleiben nur Kirchen, in denen Gottes- Erwartungen aus dem Haus und wirst den Tag über wie
dienst gefeiert wird. Das viele Laufen, die Ziellosigkeit, die durch eine Mangel gedreht, bis am Abend nichts als Müdig-
vergebliche Suche, auch, weil es um 17 Uhr dunkel ist – ich keit und Erschöpfung übrig bleibt. Du brauchst offenbar
bin absolut erschöpft. Bodenhaftung fehlt meinen Decken- den Widerstand und die Reibung, um das Gefühl zu haben,
figuren heute. etwas errungen zu haben, etwas, das nicht so leicht zu
WF: Ich lasse mich beim Zeichnen gerne etwas treiben ohne bekommen ist. Die Belohnung ist dann ein gutes Blatt. Das
Ziel, nur aufnehmen und durch mich hindurch lassen. Du ist aber nur die eine Möglichkeit. Es muss nicht zwangsläu-
bist da viel erwartungsvoller und zielgerichteter. Ich glaube, fig zum Erfolg führen, nur weil es anstrengend ist. Jahre-
es hängt mit deiner Führungsrolle an der Uni zusammen. lang war ich auf dem gleichen Trip, bis ich mit dem Tai Chi
Alles muss einen Sinn haben, zu einem Resultat führen, angefangen habe. Da erreicht man nur etwas ohne diese
sonst fehlt dir die innere Notwendigkeit. Mit deinen klaren körperliche Anstrengung, das Powern und Durchhalten.
Vorstellungen bist du oft suchend, weniger findend. Ich Im Gegenteil, das alles steht dir im Weg. Vielleicht bist du
vergleiche dich in diesem Zusammenhang gerne mit einem auch an dem Punkt angekommen, das Kämpfen gegen dich
Spürhund, der auch nicht ziellos umherirrt. selbst hinter dir zu lassen.
Deinen Zeichnungen sehe ich nicht an, dass sie unter BvH: Das hast du richtig dargestellt: Was leicht geht, kann
schwierigen Bedingungen entstanden sind, weil es außer in meiner Verinnerlichung nicht gut sein. Morgens bin
deinen Bleistiftstrichen sonst keine Spuren gibt, die darauf ich jedes Mal voller Hoffnung. Dann kommen die langen
hinweisen könnten, dass du im Dreck gesessen bist, tausend Anfahrtswege, das Gewicht des Rucksacks, der Dreck, die
Leute um dich waren, du rausgeschmissen worden bist und Dunkelheit, die Gottesdienste. Das ist zu viel Widerstand!
es kaum noch etwas auf dem Blatt zu sehen gab, weil es be- WF: Vielleicht ist das Zeichnen nicht das richtige Medium für
reits stockdunkel geworden ist. Egal, wie es um dich steht, eine Stadt wie Rom. Mir geht es im Ausland oft wie Dir,
du hast immer die gleiche Sauberkeit und Konzentration. dass ich so viel aufnehme an Elend und menschlichen
Das ist bemerkenswert. Mir fällt dazu der etwas seltsame Abgründen und nicht wegsehen kann. Wie du deine
Vergleich mit einem modernen Panzer ein, Gegenstände beim Malen ertastest, so gehst du auch mit
dessen Zielvorrichtung das Kanonenrohr immer auf das dem Außen um: Alles muss erfühlt und mit allen Sinnen auf-
Ziel gerichtet hält. Das Kampffahrzeug bewegt sich auf und genommen werden. Lieblos sich selbst überlassene Winkel
ab, fährt durch Schlamm und Wasser oder scharfe Kurven brauchen Aufmerksamkeit. Es scheint so, als wenn wir
– die Kanone verliert ihr Ziel aber nie aus den Augen. Du beide diese Energie des Hässlichen, des Trostlosen brau-
hast etwas von dieser Präzision und dem Willen, mit viel chen, um das Gefühl zu haben, nichts Geschöntes oder
Disziplin deine Ziele zu erreichen. Das kann dich zuweilen Gefälliges zu machen. Möglicherweise bist du eine verkapp-
selbst behindern, dich blockieren und frustrieren, denn du te Fotografin und Filmerin. Dazu braucht es nämlich diesen
bist keine Maschine. Biss, diese Furchtlosigkeit und deine Ausdauer. Eventuell
BvH: Eigentlich will ich ja das Suchen, das Versuchen, das solltest du immer auch Fotos an deinen Orten machen. Das
Hilflose, das Überforderte zeigen. Wahrscheinlich strebe ist kein großer Aufwand und gibt dir das Gefühl, etwas ein-
ich dabei viel zu sehr doch eine Ordnung an. Es müsste gefangen zu haben.
chaotischer sein, nicht so abgeschlossen. Möglicherweise
habe ich mir hier zu viel Zeit genommen.
WF: Wenn dich das Abgeschlossene stört, hör früher auf und
arbeite an mehreren Blättern gleichzeitig. Dann verlierst
du die Kontrolle über jeden einzelnen Strich. Auch Striche Knie, gehalten (Rom),
brauchen ihre Entfaltungsfreiheit. Graphit auf Papier, 42 x 59,4 cm, 2022
BvH: Grundsätzlich geht es um Souveränität, zielhaftes Tun,
Begabung, Atmosphäre, Klarheit im Wollen – bei mir Befriedigung (Rom),
ist es immer das Gleiche: Stottern, Nicht-Wissen, Wie- Graphit auf Papier, 42 x 59,4 cm, 2022
der-Zurücknehmen, immer längeres Arbeiten, kraftlos
keinen Weg weiterverfolgend, aufgebend. Heute war es im Raffael mit den Wölfen (Rom),
Etruskermuseum schön, eine tolle Sammlung. Dort habe Graphit auf Papier, 42 x 59,4 cm, 2022
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