Page 134 - neu 9.4.2024 textkorrektur.indd
P. 134
Du siehst es an den vielen Pünktchen, die stehen geblieben
sind. Manchmal versuche ich eine Richtung, die sich dann
als falsch erweist. Ein Kürzel bleibt stehen, eine Geste.
WF: Das sind echte Erkenntnisprozesse, du bewegst dich in
etwas Unbekanntes und bleibst skeptisch.
BvH: Immer mehr verschiebt es sich vom Vedutenhaften weg
hin zu Gedankengängen. Ich verknüpfe mich mit dem
fremden Raum. Das Kunstgeschichtliche reizt mich sehr.
Das Kapitol in Rom erkundete ich sicher zeichnerisch am
meisten; jedoch brauchte ich in Kombination die Brenn-
punkte dieser Stadt, die versprayten, verdreckten Gebiete.
WF: Nur das Vollkommene nachzuempfinden, ist zu wenig.
Es geht darum, Störfaktoren mit einzubeziehen und Quer-
verbindungen herzustellen. Vor Jahren beschäftigte ich
mich intensiv mit der Druckgraphik Dürers. Irgendwann
kamen Gebrauchsgraphiken aus dem 19. Jahrhundert und
Pornodarstellungen hinzu, also ein wilder Mix aus Kitsch,
Trivialem und Meisterschaft. Das geht nur zusammen,
wenn ich allem die gleiche Wertigkeit gebe.
BvH: Beim zeichnerischen Nachspüren von Michelangelos
Wandbildern merke ich in dieser Schönheit auch Vieldeu-
tigkeit. Die menschlichen Probleme sind in den 500 Jahren
nicht grundlegend andere geworden. Die Farbigkeit von
Grünewald z.B. ist nicht nur himmlisch, auch etwas wider-
lich wie vergammeltes Fleisch. Wenn ich auf Reisen zeichne,
sind die Überlagerungen der Geschichte faszinierend und
nie eindimensional. Anfang August 2022 zeichnete ich
mit Volker zusammen an der Donau, zwischen Passau
und Regensburg, vor allem in Rokokokirchen. Ich liebe
die Deckengemälde, auch wenn ich den Kopf sehr stark in
den Nacken legen muss. Alles Geschehen ist verankert auf
Wolken. Du findest Gefühlszustände von Gewalt bis Zärt-
lichkeit, Liebe, Jenseitsvorstellungen für die Verdammten,
auch ganz seltsame mythologische Wesen. Ich wandere
mit den Augen Erzählstoff ab. Das Saugen des Jesuskindes
verbinde ich mit eigenen Stillerfahrungen. Ich finde Tiere
und Pflanzen. Von den Seiten ergeben sich köstliche Ver-
zerrungen oder Neubildungen. Ich suche die Gewaltszenen,
Enthauptungen. Archaische Tötungsweisen gibt es heute
immer noch. Im Allgäu, am Bodensee oder im Voralpen-
land fand ich kaum Brüchigkeiten der Jetztzeit. Beim Tun
lasse ich ganz andere Gedankengänge zu. Das kann poli-
tisch sein, mit der Natur zu tun haben, auch sexuell oder
sehr körperlich sein. Seltsame Gedanken, Schwingungen, Tinnitus im Wasser II (Konstanz),
Erinnerungen stoßen dazu. Graphit auf Papier, 42 x 59,4 cm, 2022
WF: Im Grunde sind es Sozialstudien quer durch die Geschichte,
die du betreibst. Dabei schaust du dir die Hinterlassen- Durchsichtigkeit (Mallersdorf),
Graphit auf Papier, 42 x 59,4 cm, 2022
schaften früherer Zivilisationen ebenso an wie das Leben
auf der Straße. In diesem Spannungsfeld von Vergangenheit
und Gegenwart ereignet sich deine Kunst. Das Zeichnen ist
dir offenbar eine ganz große innere Notwendigkeit, dir die
Welt zu erklären.
Opfer (Überlingen),
Graphit auf Papier, 42 x 59,4 cm, 2022
Spritzen (Lecce),
Graphit auf Papier, 42 x 59,4 cm, 2022
132

