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„Fadenbrüche“




        Linolschnitte, 2017 – 2022, Palais Walderdorff, Trier, 11.02 – 19.03.2022




     BvH: In den letzten beiden Jahren schnitt ich exzessiv Lino-  die Gefahr und das Bedrohliche. Es ist echte Betroffenheit,
        leum, und zwar immer auf der Basis von Aquarellen und   obwohl wir beide Spielfiguren als Ausgangspunkte wählen.
        Zeichnungen. Während der Transformation der Zeichnung   WF: Auf den von Drohnen aufgenommenen Fotos in der Presse
        zum Druckstock geht ein großer Änderungsprozess vonstat-  sehen Truppenaufmärsche wie geometrische Muster und
        ten, weil ich ausprobieren möchte, wie eine Bildhauerin zu   Formen auf weißem Hintergrund aus. Die Verkleinerung
        arbeiten: eine subtraktive Vorgehensweise. Durch die Um-  und optische Verdichtung lassen aus Panzern und Last-
        setzung in Linoleum werden die Bildideen noch entschie-  wagen kryptische Zeichen werden, die an Blindenschrift
        dener, weil ich reduziere. Anders als bei den Zeichnungen   erinnern. Ähnliches geht mir durch den Kopf, wenn ich auf
        ist die Grundstruktur im Abstand von mehreren Metern zu   deine Zeichnungen schaue. Sie haben etwas Schriftartiges,
        erkennen. Die Zeichnung dagegen ist tastender, stotternder,   das sich bei näherer Betrachtung aber als etwas ganz Ande-
        bröckelnder und feiner.                           res entpuppt.
     WF: Es sind Neuinterpretationen von dem, was du vorher    BvH: In „Erhebungsversuch“ streckt die Ich-Figur mühsam ihre
        gemacht hast.                                     Hand zu einer Arbeiterfaust hoch und sagt: Ich bin da. Es
     BvH: Beim Zeichnen beobachte ich und ertaste wirklich die   wirkt wie ein Zerquetschen von Dingen in der Hand.
        Dinge! Im Linolschnitt fülle und ordne ich dann Wesen   WF: Dein Ansatz scheint mir heftiger geworden zu sein: eine
        in den Korpus. Da sind kleine Babyfiguren, die in Miss-  Faust, die Menschen darin gefangen hält und zermalmt.
        brauchssituationen dargestellt sind, Soldaten, geöffnete   BvH: Das Blatt zeigt eine Menge Aggression: sehr oft ein Zick-
        Früchte, Cocktailspieße, die wie Lanzen oder wie Schwerter   zack, blitzartig. Selbst die Menschen werden eckig und in
        durch die Figuren gehen, Totenköpfe, Motten, Marien und   Schemen gepresst. Es gibt immer wieder auch die Zärtlich-
        anhimmelnde Klischeefiguren. Auch der Krieg in Miniatur-  keit: Eine Figur, die den Kopf schräg legt und die Hände fast
        format ist in den Körpern enthalten. Er befällt die Figur wie   unbeholfen vor den Intimbereich hält. Die Breite meiner
        Ungeziefer, hängt wie Pilze an den Oberschenkeln und am   Erfahrungswelt: Erschrecken über den Rechtsradikalismus,
        Hals, krabbelt bis in die Gesichter. Eine zufällige Findung   die Fratze. Ich probiere mich aus.
        ergab sich in „Versuchsanordnung männlich I“: Eine Art   Wenn wir weiter schauen: 2019 ist meine Mutter gestorben.
        Hakenkreuz sitzt wie eine Zange auf der Nase und verklam-  Ich entwickelte Abschiedsgesten, nicht die bekannte Nazigeste,
        mert die Gesichtspartien mit diesen Haken. Manchmal füge   sondern ein leichtes Winken. Es hat aber auch etwas von
        ich Schrift ein. Ein Blatt heißt „Mutter“, ein anderes (väter-  Abwehr in spastischer Verdrehung. Oder die Finger ver-
        licher) „Tritt“, auch aufgrund von Gewalterfahrungen. Die   wandeln sich in Motten, überall ist Zerfall! Grußszenen mit
        Worte sind so eingebunden, dass sie sich in den Bildstruk-  berührenden Händen stammen von Marias Heimsuchung.
        turen auflösen. Kampf und Gewalt stammen manchmal aus   Beide erkennen sich als Schwangere. In unseren Körperteilen
        den Kirchen, von Kreuzwegstationen, der Geißelung und   haben wir unsere Lebensgeschichte gespeichert.
        dem Niederschlagen Christi etwa, oder aus den Martyrien
        der Heiligen. Der Heilige Gordian wurde geköpft und
        Hunden vorgeworfen, die ihn aber wegen seiner Aura nicht
        anfraßen. Solche Szenen oder z.B. die durchbohrte Maria
        sind schmerzhaft und brutal. Die Foltermethoden lassen
        sich zusammen mit äußerst süßlichen Verzückungen und
        Liebesspiel in den barocken Deckengemälden finden. Viele
        Geschichten wirbeln durcheinander, sodass es kein klassi-
        sches Unten und Oben gibt, eher eine Art Reigen.
     WF: Mir fällt auf, dass die Gegenständlichkeit aufgelöster ist als
        vor zehn Jahren und das Fragmentarische zugenommen hat.
        Zerfranste Leerstellen gleichen Mottenlöchern!
     BvH: Manche dieser Figuren haben fast kindliche Proportionen:
        ein großer Kopf und die Hand mit einer Abschiedsgeste,
        eine Art Winken. Es lässt sich ganz viel lesen: Schädel,
        Pusteblumen, die weg schweben, Bewegungsstriche wie
        im Comic, als wenn etwas explodiert oder wegrutscht, ein
        Kämpfer mit Helm und einer Geste der Aggression, schie-
        ßende Soldaten, auch die Gegenwelt, Witziges, ein Häschen
        dazwischen, immer wieder die Selbstfiguren. Alles hat mit
        dem Jüngsten Gericht zu tun, mit den Geretteten oder den
        Verdammten. Das Thema Krieg hat immer mehr zugenom-
        men. Die Spielanordnungen zeigen wie auf Drohnenbildern




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