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Vom Licht geschluckt










      BvH: Seit fast 30 Jahren zeichne ich mit Aquarellfarbe in den   niemals dabei. Dunkelheiten erzeuge ich durch die Mischung
        Sommermonaten im Süden Europas, weil die Trocknungs-  aller Töne. Ich habe Freude daran, dass dieses Zusammenbau-
        phasen kürzer sind. Die Arbeitszeiten haben sich auch in   en eine fast irreale Farbigkeit gibt, die durch den roten Klang
        dieser Technik immer mehr verlängert. Für meine Aquarelle   dennoch etwas Fleischliches mit sich bringt.
        brauche ich drei Tage. Ich „krieche“, wie in den Leinwän-  WF: Als Betrachter möchte mir erst einmal einen Überblick ver-
        den, auch hier in die einzelnen Akteure und fühle nach.   schaffen. Dazu beginne ich mit den großen Formen und gehe
        Zunächst baue ich mir eine ganze Landschaft aus Dingen   dann immer mehr ins Detail. Ein wahrer Kosmos aus Ver-
        auf, die Pflanzen, meist Obst, Spielfiguren, Devotionalien,   dichtung und Konzentration erschließt sich auf diese Weise.
        Deko-Material, Totenschädel, präparierte Tiere, Hoch-  BvH: Da ist viel Rhythmus. Formen und Farben treten immer
        zeitspaare zur Tortendekoration, Plastikembryos oder   wieder auf. Insgesamt ist es ein Wechselspiel zwischen for-
        -soldaten enthalten. Da sind geöffnete, vulvaartige Pfirsiche,   maler und inhaltlicher Lust. Was mich in diesem Sommer
        in denen Cocktailspieße stecken. Ein schmerzhaft-schönes   wieder extrem beschäftigte, ist die Sexualität, einer lustvol-
        Arrangement! Ich benutze Edelstahlschüsseln, -kugeln und   len und zum anderen einer brutalen. Bei genauerer Betrach-
        -halbkugeln als Parabolspiegel. Auf diese Weise entstehen   tung der Arbeiten sind immer wieder kleine Embryos und
        irreale Raumwirkungen, Bodenlosigkeit, ein Wegrutschen,   Plastik-Föten zu sehen. Abtreibungsgegner nutzen sie für
        Verbiegen und eine extreme Vervielfältigung der Figuren.   Performances. In meinen Bildern werden sie gezwungen,
        Ich selbst bin unbekleidet, sehe mich ebenfalls in den   an männlichen Genitalien zu lutschen. Ich habe viel über
        Zerrspiegeln und verwandele mich zu einer verlängerten   Pädophilie und das brutale Geschäft recherchiert. Dann
        oder gebogenen Figur. Alle Dinge und Körper werden mir   gibt es die eigene Sexualität, den Missbrauch – ich setze
        durch die Zusammenstellungen und Dehnungen fremd: ich   gespreizte Beine. Das ist manchmal versehen mit Zick-
        muss mich neu annähern. Aus der Masse an Erkundungen   zack-Linien. Dann probiere ich die Zweigeschlechtlichkeit
        möchte ich eine Art Skulptur entwickeln, einen Korpus, was   oder hinterfrage, wie es sich anfühlen würde, ein Mann zu
        ein ziemlich absurdes, auch quälerisches Unterfangen ist!   sein? Diese Fragestellung beschäftigt mich seit Jahrzehnten.
        Die Setzungen muss ich, so wie sie sind, akzeptieren, weil   Seit etwa 2010 stelle ich Hermaphroditen dar, ordne also
        sich Aquarell nicht mehr korrigieren lässt. Ich bin verwun-  weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale einer Figur
        dert, dass ich mich nach so vielen Jahren der Auseinander-  zu. Ich bin dann auch männlich. Das Ding, das da zwischen
        setzung mit mir selbst immer noch intensiv beobachten   den Beinen ist, wird gehalten, entgegengestreckt, verletzt,
        muss: etwa wie die Reflexionen in meinen Augen verlaufen,   zu einer Wurst mit Abschnürung. Manchmal wirkt das
        wie die Windungen der Ohren aussehen oder wie Mund-  Körperteil wie eine Stütze, um Statik herzustellen, wie ein
        partien funktionieren. Eine Kombination aus Unter- oder   fünftes Bein in der Tierwelt! Das bleibt auch für mich selt-
        Aufblicken in der Gesichtszone verzerrt das Ich bis ins   sam. Es kommen andere Bereiche der Gewalt dazu, indem
        Animalische. Manchmal ist es so etwas wie ein Kuhkopf,   ich Soldaten und Waffen einsetze. Da ist dieser permanente
        weil meine Nasenlöcher relativ groß werden. Mein Äußeres   Horror aus den Kriegsberichterstattungen. Das Ganze hat
        verändere ich bis zur brutalen Auflösung. Ich probiere mich   eine performative Wirkung auf mich. Ich probiere mich mit
        und versetze mich in meinen Darstellungen spielerisch in   mir selbst aus, und das ist im Aquarell natürlich deutlich
        den Zustand des Ausgeliefertseins.                schneller und leichter als in der Malerei möglich. Ich lege
        Mein Grundanliegen ist es, eine fast druckgraphische   viele Stills von Bewegungsabläufen übereinander, die Arme
        Farbigkeit zu setzen, die sich jedoch durch das Aquarell ma-  oder Beine sind nicht immer anatomisch logisch verbunden.
        lerisch verbindet. In den letzten Jahren variiert meine Farb-  Es ist ein Prozess.
        palette zwischen Rosarot, Türkis, Cölinblau und Zitronen-  WF: Ich brauche Zeit, um mich auf deine Bilder einzulassen,
        gelb, das sich zu einem Grün vermischt. Schwarz habe ich   die aus einer großen Empfindsamkeit heraus entstehen. Der
                                                          Gegenstand deiner Untersuchungen, deiner Selbstversuche
                                                          und Selbstsuche, die Ich-Figur ist das zentrale Thema. Die-
                                                          ses Bemühen um Antworten und Gewissheiten ist lustvoll
                                                          und quälerisch zugleich. Es geht um Befindlichkeiten, um
                                                          Selbsterfahrungen und um den unverstellten Blick auf alles,
                                                          was uns betrifft, formt und verletzt. Dies geschieht auf eine
                                                          sehr tastende und neugierige Art.
                                                        BvH: Ich setze auch Bewegungslinien, wie im Comic! Auch so
                                                          Komisches wie Häschen oder Bärchen!
                                                        WF: Es bleibt jedoch eine Mehrdeutigkeit, ganz anders als im
                                                          Comic. Da ist ganz viel Offenheit. Ich würde gerne eine
                                                          Lupe benutzen!





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