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BvH: Die Dinge untersuche ich sehr gerne mit einem ganz ge-
        ringen Abstand, oft sind es nur zehn Zentimeter. Ich möchte
        die Mimik erkennen, nie schematisch werden,
        auch im Detail nicht.
      WF: Warum bist du im Aquarell so viel reduzierter, weniger
        realistisch? Du lässt ja die Oberflächenbeschreibung nahezu
        weg. Mir fällt auf, dass es bei dir immer mehr „Durch-
        brüche“ gibt, sich alles aufzulösen scheint und die Körper
        „zerlegt“ werden.
      BvH: In den letzten großen Bildern, also zum Beispiel in der
        „Isenheimer Spiegelung“ oder der „Magdalena am Krater“
        ist das ähnlich. Viele Figuren agieren in einem Korpus,
        manchmal 30 bis 40 Gestalten, die fallen und aufsteigen.
        Das hat mit meiner Beschäftigung mit den Jüngsten
        Gerichten zu tun, in denen auch der Überblick schwerfällt
        und diese 500 Jahre alten Darstellungen trotzdem zu den
        faszinierendsten Bildern gehören. Man muss sich hineinfin-
        den, um das Gesamtgeschehen, die Struktur zu erfassen.
        Vielleicht wird über das Anschauen früherer Serien von mir
        deutlich, dass ich eine bewusste Entscheidung zu immer
        mehr Langsamkeit und Präzision getroffen habe. Heute
        beschäftigen mich auch andere Themen, etwa der Faschis-
        mus, Populismus, die fehlende Ambiguität. Das Entsetzen
        ist auch in meine Aquarelle eingeschrieben.
      WF: Wenn ich zum Beispiel deine Arbeiten aus dem Jahr 2022
        nehme, prallt eine süßliche Farbigkeit auf eine grausame
        Inhaltlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit von Brutalität auf
        der einen und Zärtlichkeit auf der anderen Seite macht den
        besonderen Reiz dieser Arbeiten aus. Die daraus resultie-
        renden Holzschnitte gehen in ihrer Strenge noch einen
        Schritt weiter.
      BvH: Die letzte Aquarellserie habe ich „Radikales Sticken“
        genannt. Ich fühle mich wie eine Handarbeiterin. Ich kann
        stricken, häkeln, sticken, nähen. Diese Tätigkeiten wurden
        der Frau immer klassisch zugeschrieben. Dieser Mühsal
        unterziehe ich mich. Ich investiere exzessiv Zeit, addiere
        Strich für Strich und komme mir wie eine Stickerin vor.
      WF: Nur, dass bei dir eine viel größere Freiheit herrscht als in
        Handarbeiten, die meist ornamental und dekorativ sind.
        Deine Arbeiten entstehen zwar in einem meditativen,
        dennoch zielorientierten Prozess. Mühsal wird nicht zum
        Selbstzweck.
      BvH: Beliebig ist für mich gar nichts. Wir sehen auf den Blättern
        Totenschädel zwischen den Beinen von Kriegern, skelett-
        ähnliche Figuren treten auf. Bienen und Fliegen sind mit
        eingearbeitet. Marien interessieren mich auf Grund meiner
        katholischen Sozialisation.
      WF: Mir fällt auf, dass deine Farbgebung nichts Düsteres hat, sie
        eher lichtdurchdrungen ist. Kann das mit den mediterranen
        Entstehungsorten zusammenhängen?
      BvH: Ich will diese Leuchtkraft, wie bei Kirchenfenstern. Viel-
        leicht suche ich über die Farbe Leichtigkeit und eine kirmes-
        hafte Süßlichkeit! Im Aquarell halte ich mich für absolut
        zeitgenössisch, auch wenn ich ein so altes Mittel verwende.
        Der Zerfall unserer Gesellschaften beschleunigt sich gerade.
      WF: So sind deine Arbeiten auch zu lesen. Es sind Bilder des
        Verschwindens. Es bleiben nur Fragmente, die vom Licht
        geschluckt werden.







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