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40 Jahre Kunst










                                BvH: Wir sind jetzt seit 40 Jahren Künstlerin und Künstler. Für   gleichendes: große Strecken Brustschwimmen. Ich atme,
                                  niemanden ist es ein vorgezeichneter Weg. Das Ziel ist nicht   zähle die Bahnen und denke nach.
                                  richtig bekannt, aber es treibt mich immer weiter. Die Sicht-  WF: Das Eislaufen und das Schlagzeugspielen führten mir auch
                                  barkeit und die Öffentlichkeit sind notwendig, weil sonst   Energie zu! Beim Eislaufen übte ich fast täglich in den
                                  eine Selbstgefälligkeit entstehen kann. Die harte Reibung am   Semesterferien extreme Sprünge. Das Denken fand dann
                                  Kunstbetrieb und -markt und die immer wiederkehrende    eher über den Körper statt; ich bin ganz in der Bewegung.
                                  Ablehnung konnte ich mir zu Beginn nicht vorstellen.  Beuys sagte: „Ich denke sowieso mit dem Knie.“
                                WF: Die ständige Ungewissheit bei der Finanzierung von Projek-  BvH: In diesem Sommer bin ich täglich drei Kilometer
                                  ten oder der angemieteten Atelierräume hatte ich zu Beginn   geschwommen! Ich komme in eine Art Flow, und die
                                  meiner künstlerischen Tätigkeit unterschätzt. Die Auflösung   Gedanken fließen dabei. Zu der totalen Ausrichtung auf
                                  des Beamtenverhältnisses als Wagenmeister bei der Deut-  die Kunst fällt mir noch etwas Wichtiges ein: Ein neu geord-
                                  schen Bundesbahn mit Mitte zwanzig bereute ich dennoch   netes Leben begann, als unsere Tochter Paula auf die Welt
                                  nie. Gab es bei dir auch einen Moment, in dem du die Schule   kam. Es gab plötzlich viele Menschen um mich, die keinerlei
                                  oder jetzt die Universität nur als Zwischenstationen betrachtet   Berührung mit Kunst hatten. Das war wirklich wunder-
                                  hast? Oder brauchst du diese Form der Ordnung?    schön zu erleben, dass es anderes als die Kunst gibt.
                                BvH: Ich schätze es, meine künstlerische Forschung völlig frei   WF: Mich erdete die Arbeit auf Baustellen, das Bäderfliesen
                                  voranzutreiben. Außerdem mag ich es, mit jungen Menschen   oder Wändetapezieren gehörte zu meinen Tätigkeiten.
                                  zusammenzuarbeiten. Die Uni ermöglicht nicht nur finanzielle   Dadurch kam auch ich mit Menschen zusammen, die wenig
                                  Sorglosigkeit, sie schafft mir auch Rhythmus und Struktur.   oder gar keinen Bezug zur Kunst hatten. Die Ziele waren
                                WF: Alle Angestelltenverhältnisse hätten meinen Freiraum zu   klar definiert. Ich bekam typische deutsche Wohnzimmer zu
                                  sehr beschnitten! Ich brauchte Wochen, in denen ich ohne   sehen und schaute in völlig andere Lebensentwürfe hinein.
                                  Unterbrechung meine künstlerischen Projekte vorantrieb.    BvH: Wir sind beide nicht isoliert und bewegen uns in den
                                  Mit mir war ich ähnlich gnadenlos wie Du. Ich habe mich    Gegensätzen zwischen Einsamkeit und gesellschaftlicher
                                  im Atelier eingesperrt, vor mich hin gegrübelt und gearbeitet.   Einbettung.
                                  Gerade aus diesen Erschöpfungszuständen heraus entstand
                                  Wichtiges. Ich werde dann zu meinem Gegner, bestenfalls zu
                                  meinem Gegenüber.
                                BvH: Bei mir gab es unterschiedliche Phasen. Volker und ich
                                  lebten Ende der 80er Jahre in einer Wohnung mit Ateliers.
                                  Dort fand ich nachts oft keinen Abschluss und merkte, wie
                                  wichtig mir ein außerhäusliches und damit auch professio-
                                  nelleres Atelier ist. Ich war schon immer exzessiv, und durch
                                  die räumliche Distanz entstand mehr Rhythmus. Im Gegen-
                                  satz zu dir befragte ich mich ständig, ob ich begabt bin. Die
                                  Abgründe waren von Anfang an schlimm.
                                WF: Wir beide haben keine Rauschmittel genommen. Bei allen
                                  Freiheiten war es mir stets wichtig, Herr im eigenen Ring
                                  zu bleiben. Rauschmittel bewirken eher das Gegenteil: Man
                                  verliert das Urteilsvermögen. Für mich sind Meditationen
                                  viel effektiver, weil sie von innen ihre Wirkung entfalten.
                                BvH: Mit deiner Meditation und deinem Thai Chi ist mein
                                  Schwimmen vergleichbar. Das hat bei mir etwas sehr Aus-









                                                                              Wolfgang beim
                                                                              Eiskunstlaufen,
                                                                              1996

                                                                              Wolfgang im neu
                                                                              gekachelten Bad,
                                                                              2002
      Aquarell auf Papier,
      32 x 24 cm, aus den Jahren 2003,                                        Bettina mit Paula,
      2013, 2008                                                              1996
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