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BvH: Lass uns noch einmal fast 30 Jahre zurückgehen! Wie bist artige Ausstellungen: Beuys, Klee und Goya. Jackson Pollock
du auf Rudolf Schoofs gestoßen? beeindruckte mich, wie er in seiner Malweise den Zufall zu-
WF: Er war in Stuttgart Professor für Freie Graphik und ließ, bei Pierre Alechinsky gefiel mir das Wuchern in seinen
Malerei. Mit meiner ersten Mappe wurde ich in Stuttgart Tuschen. Willem de Kooning zertrümmerte förmlich mit
abgelehnt. Ich hatte mir praktisch alles selbst beigebracht. dem Pinsel sein Aktmodell, Cy Twombly trug das Kritzeln
So sah die Mappe dann auch aus: Kopien von Kirchner und und Schreiben in die Malerei, und Pierre Soulages reduzierte
Picasso, dazu einige Portraits meiner Mutter im Mieder, seine Malerei auf gestisch gesetzte Schwarzflächen. Es waren
Selbstbildnisse und ein abgebranntes Streichholz. Ich Künstler, die das Unterbewusste befragten.
brauchte dringend Unterricht! Im Kunstverein Stuttgart Ich tauchte in meditative Prozesse ein, zeichnete z.B. ein
sah ich große Ölbilder und Stadtlandschaften von Rudolf ganzes Semester lang großformatige Bleistiftzeichnungen,
Schoofs, die mich durch ihre Intensität und Ernsthaftig- die aus lauter ca. drei Millimeter kleinen Punkten bestan-
keit beeindruckten. Das könnte mein künftiger Professor den, inspiriert von Ameisenhaufen. Sehr wichtig waren
sein! Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief ihn auch die Outsider, die Prinzhorn Sammlung in Heidelberg,
aus einer Telefonzelle an. Wir unterhielten uns, bis mir das die Künstler aus Gugging wie Oswald Tschirtner, Johann
Kleingeld ausging. Dann suchte ich ihn mit meiner „Quer- Graber, Johann Hauser und August Waller. Ihre Werke sind
beet-Mappe“ auf. Andere hätten vermutlich alles verbal von einer unerreichbaren Reinheit, weil ihnen das Spekula-
zerrissen. Schoofs meinte nur, ich sei hochbegabt, aber dass tive und Absichtsvolle fehlt.
es einen Denkfehler in meiner Arbeit gäbe. Nach einem Jahr In Fellbach hatte ich ein eigenes Atelier, in dem ich sehr
Freie Kunstschule war er höchst erfreut über meine Fort- intensiv arbeiten konnte, Tag und Nacht. Diese Jahre von
schritte. Als ich ihm mein Bedauern darüber äußerte, dass 1992 bis 1996 waren praktisch die Vorstufe zur Selbststän-
ich in den bevorstehenden Semesterferien keinen Platz zum digkeit. Beim Zeichnen hörte ich Hörbücher über Philoso-
Arbeiten hätte, gab er mir in der Tübinger Straße – damals phen, von Dichtern und Wissenschaftlern – natürlich auch
eine Außenstelle der Akademie – einen Platz. Musik, fast ausschließlich Klassik. Ich hatte einen großen
Ich lebte in einem Zimmer mit nur sechs Quadratmetern Nachholbedarf, wollte mich auf allen Gebieten erweitern.
Wohnfläche inklusive der Dachschräge mit Kippfenster, Ständig las ich in Katalogen oder Kunstzeitschriften.
einem Bett, Tisch, Stuhl, Schrank und einem Waschbecken. Im Studium gab es die Grundversorgung BAföG, dennoch
Ich blieb dort zwölf Jahre. Den öffentlichen Raum nutzte musste ich etwas jobben, konnte mich aber auf meine
ich zum Arbeiten. Im Grunde ist diese Strategie bis heute so Arbeit konzentrieren. Der Eiskunstlauf sowie das Thai Chi,
geblieben. Von 2003 bis 2018 hatte ich kein festes Atelier, nur beides betrieb ich ca. 13 Jahre lang, hatten natürlich ebenso
einen Lagerraum. Auch bei Rudolf Schoofs war das Raum- Auswirkungen auf mein künstlerisches Tun. Der Tages-
angebot nicht sonderlich gut. Ich suchte mir Ecken in Fluren, ablauf war klar geregelt. Es gab wenige Unterbrechungen,
später im Vorlesungssaal. Dann kam ich auf die Idee, mich ich erlaubte mir kaum eine Pause. 1996 fiel die finanzielle
nachts vom Hausmeister ungesehen einsperren zu lassen. Unterstützung des Staates weg, sodass ich sehr viel mehr
Nach einem Jahre wechselte ich dann in die Außenstellen. Jobs annehmen musste. Nach einem Jahr besuchte mich
BvH: Wer hat dich angeregt? Von wo gab es die meisten Impulse? Rolf Nikel. Er hatte damals schon ein Atelier in der Eber-
Von der zeitgenössischen Kunst oder doch von deinen Mit- hard-Ludwig-Kaserne in Ludwigsburg. Am äußersten Ende
studierenden? der Kaserne oben auf dem Dachboden standen mehrere
WF: Wir waren zu Beginn des Studiums in irgendeiner Weise kleine Räume leer, mit viel Dachschräge, wenigen Fenstern,
Suchende. Später in der Außenstelle Fellbach gab es eine und der Boden war mit Steinwolle bedeckt. Ein halbes Jahr
ganze Reihe interessanter Kommiliton*innen. Wir bildeten brauchte ich, um die Räume bewohnbar zu machen. Ich ver-
eine Art Ateliergemeinschaft. Einige von ihnen sind in der legte Strom- und Wasserleitungen, ersetzte kaputte Fenster-
Kunst geblieben und erfolgreiche Künstler*innen geworden. scheiben und strich die Wände. Am Ende war daraus ein
Mein Interesse galt natürlich der zeitgenössischen Kunst, richtig tolles Atelier geworden, leider ohne Heizung. Von
aber auch der Kunstgeschichte. Die Werke von Caspar David Stuttgart aus nach Ludwigsburg pendelte ich täglich. Auch
Friedrich, Otto Runge, Albrecht Dürer oder Rembrandt
faszinierten mich, nicht weniger das von Joseph Beuys oder
Arnulf Reiner; auch die abstrakten Expressionisten wie z.B.
Robert Motherwell oder Franz Kline kannte ich gut, und die
Neuen Wilden mit Georg Baselitz oder A. R. Penck standen
bei mir hoch im Kurs!
BvH: Erinnere Dich, ob es Ausstellungen gab, die explosions-
artig wirkten! Ich weiß z.B., dass ich 1985 in Stuttgart in der
Staatsgalerie Francis Bacon zum ersten Mal im Original sah
und tief beeindruckt war.
WF: Diese Ausstellung fand ich auch sehr spannend, etwa wie
Bacon mit dem Raum umging und das Hässliche themati-
sierte, wie viel Biografisches in seinen Bildern vorkam. Die
Interviews über seine Abgründe und das Scheitern wühlten o.T, 1974, 1986 überarbeitet,
mich auf. In Tübingen gab es Anfang der 90er drei groß- Öl auf Malpappe,
30 x 40 cm
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