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WF: Jetzt möchte ich von deinem Kunststudium einiges erfah-  eine ideale Komprimierung. Das änderte sich, als ich mit 31
        ren! Du hast in Mainz an der Kunsthochschule auf Lehramt   ein Kind bekam. Ich gab Kurse und Seminare und verkaufte
        studiert und danach eine Berufstätigkeit im Schuldienst für   recht gut. Ich begann, mich auf Professuren zu bewerben,
        möglich gehalten.                                 was bald zum Erfolg führte. Mit 39 Jahren erhielt ich an
     BvH: Ich blendete das vollkommen aus. Ich hatte nach dem   der Universität Dortmund eine Professur für Zeichnung
        Abitur ein großes Bedürfnis, aus dem Elternhaus wegzu-  und Druckgraphik und konnte mit einer guten finanziellen
        gehen. Alle Kunststudent*innen, die ich kannte, studierten   Grundlage die Kunst machen, die ich wollte. Das hat mich
        in Mainz, knapp zwei Stunden von Saarbrücken entfernt.   auch an meine physischen Grenzen gebracht. Ich bin seitdem
        Die Kargheit im Wohnen verbindet uns! In einer umgebau-  unabhängig vom Kunstmarkt und betreibe künstlerische
        ten Garage ohne Dusche hatte ich mir neben dem Bett und   Forschung. Das ist meine lange Antwort auf deine anfäng-
        der Herdplatte mein „Atelier“ eingerichtet. Ich arbeitete an   liche Aussage „Du hast Lehramt studiert“! Heute ist Mainz
        Stillleben, Portraits, Architektur und Landschaften und viel   bei ähnlicher Ausstattung und Personal eine Akademie, die
        draußen. Ich fuhr mit dem Rad in raue Industrieanlagen   beides, Freie Kunst und Kunsterziehung, anbietet.
        wie den Mainzer Hafen oder auch in die Gonsenheimer   WF: Wie hat das Studium bei dir gewirkt?
        Gärten. Das Arbeiten von morgens bis nachts war großartig!   BvH: Ich zweifelte an mir so substanziell, dass es hinderlich war.
        Vier Semester studierte ich katholische Theologie. Mich   Ich kämpfte. Schon immer war ich enorm diszipliniert und
        interessierten die Seminare – ich wollte jedoch ausschließ-  holte durch ganz viel Zähigkeit und Willen das Optimum
        lich Kunst machen und gab das Theologiestudium auf. Die   aus mir heraus. Ich hatte einen Umkreis, den ich sehr
        Didaktik- und Erziehungswissenschaftsseminare liefen am   schätzte. Diese Mitstudierenden machten teilweise verspon-
        Rande, die kunstgeschichtlichen Studien erweiterten mich,   nen ihre Arbeit, insbesondere eine Freundin, die Qualitäten
        so dass ich gefühlsmäßig freie Kunst studierte. Das Danach   einer Outsiderin besaß. Diese Menschen prägten mich fast
        verdrängte ich. Nach fünf Jahren stellte sich die Frage nach   mehr als meine Professoren. Wir hatten in Mainz eine ganz
        einem weiteren Studium an einer Akademie. Freunde frag-  breite Ausbildung, etwa Plastik, Keramik, Metall, Textil,
        ten: „Willst du wirklich noch mal ganz von vorne anfangen?   Schrift und Soziologie. Vom Anfang an war mir klar, dass
        Du bist doch kein Knetgummi mehr, den man in jede   ich mich zwischen Druckgraphik, Zeichnung und Malerei
        Richtung drücken kann.“ Ich hatte das Gefühl, alleine weiter   bewegen würde. Das ist keine Selbstbegrenzung gewesen.
        bohren zu müssen.                                 Bis heute fasziniert mich die Fläche. Ich liebe diese Abstrak-
        Das Referendariat in Speyer war dann eine schwierige Zeit.   tion und brauche kein Bewegtbild, keine Lichtinszenierung
        Der äußerst unangenehme, machtbesessene Fachleiter   oder Tonspur. Die Raumillusion und Zeitlichkeit entste-
        forderte Anpassung. Nur an den Wochenenden und in den   hen im Kopf. Wichtig wurde Bernd Schwering als Dozent,
        Ferien hatte ich Kunstzeiten. Ich wusste, dass mein    ein Fotorealist, der eine Klasse begründete. Das Foto war
        (hervorragendes) Zweites Staatsexamen ein Baustein war,   für mich kein Ausgangspunkt, aber die Präzision und der
        um würdig Geld zu verdienen, damit ich möglichst viel   Realismus hatten eine große Wirkung auf mich, auch wenn
        Kunst machen konnte. Ich erhielt zunächst eine halbe Stelle   ich erst über zehn Jahre später realistischer wurde. Das
        an drei Tagen, dann eine Zweidrittel-Stelle an zwei Tagen,   Studium verankert Möglichkeiten in uns. Ich war lange eine
                                                          gestische Malerin, Zeichnerin und Holzschneiderin. Es war
                                                          Lust auf Expressivität. Bis heute möchte ich in meiner Lehre
                                                          niemanden zwingen, Techniken oder Abstraktionsebenen
                                                          durchzudeklinieren. Ich brachte mir die Primamalerei selbst
                                                          bei, keine Schichtenmalerei, so wie sie Bernd Schwering
                                                          praktizierte. Ich hatte erst in den 90er Jahren das Bedürfnis
                                                          nach feineren Beschreibungen. Das entwickelte sich über
                                                          Kohlezeichnungen, später über Ölfarbe.




























                                                          Atelier Saarbrücken, 1983
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