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WF: Es kann Jahre dauern, bis irgendetwas Nennenswertes ent-  meine Tochter mit einzubeziehen. Einerseits hatte ich viele
                                steht, das mit dir zu tun hat.                      Schwangerschaftsbilder gemalt, fast animalische Figuren.
                             BvH: Es gibt jedoch Anliegen, die über das ganze Leben be-  Da konnte eine zweite Figur erahnt werden. Andererseits
                                stehen bleiben. Schon vor dem Studium begann ich, mich   war dieser Säugling so abhängig von mir, dass ich ihn als
                                im Spiegel anzuschauen. Mich faszinierte es, mir so näher   Teil von mir empfand. Je selbstständiger der Mensch wird,
                                zu kommen. Paula Modersohn-Becker mit ihrem Wollen   desto größer die Fremdheit, und desto weniger gelingt mir
                                war für mich ein großes Vorbild. Philip Guston oder Willem   es, Auskunft darüber zu geben. Ich gehe von einem fiktio-
                                de Kooning, die Engländer Francis Bacon, Lucian Freud,   nalen Ich aus und setze dann Politisches, Alltägliches oder
                                David Hockney – das waren Sensationen. Nie mehr entsteht   Gesellschaftliches in Dingform dazu. Mich entsetzt der
                                so eine riesige Begeisterung wie in diesen jungen Jahren.   Faschismus, sodass Zeichen oder Wörter aus diesem Kontext
                                Italien erobern, mit Michelangelo, mit Tintoretto, mit   erscheinen. Ich male Tiere um die Selbstfigur herum und
                                Caravaggio, die französischen Architekturen, die Antike aus   klage dabei nicht direkt an, aber es sind Tiere der Massen-
                                Rom, die archaischen Figuren der Etrusker. Das Reisen war   tierhaltung oder tote Tiere. Viel Welterfahrung ist in meinen
                                immer eine Glücksquelle für mich. Reisen hieß: alte Kunst   Bildern, keine enge Nabelschau. Die ganze Kunstgeschichte
                                und Zeitgenossenschaft anschauen. Und zeichnen! Das Wort   ist voller figürlicher Kunst, von der ich das meiste entnehme.
                                Urlaub kannte ich nicht. Das Beste war für mich, Wirk-  WF: Du gehst sehr schonungslos mit dir in deinen Bildern um.
                                lichkeit über die Zeichnung wahrzunehmen, nie durch die   Deine Malerei ist kaum schmeichelhaft, und Eitelkeiten
                                Fotografie.                                         lassen sich auch nicht ausmachen. Du stehst inmitten kom-
                             WF: Man beobachtet beim Zeichnen Vorgänge, Entwicklungen   plexer Vorgänge und Interaktionen, aber du nimmst eine
                                und Veränderungen. Das ist teilweise auch mit der Kamera   eher passive Rolle ein, mehr beiwohnend als agierend. Du
                                möglich, aber mit dem Stift gibt es noch viel mehr Ebenen,   bist im Zentrum des Geschehens, aber du bist nicht das Zen-
                                die man einbringen kann. Im Studium hatte ich Industrie-  trum. Dies alles geschieht völlig lautlos und unspektakulär.
                                anlagen aufgesucht, in denen ich selber früher arbeitete.    Wo sind diese intimen und auch großen Bilder eigentlich
                                Das war teilweise selbst auferlegte Vergangenheitsbewäl-  entstanden?
                                tigung. Ich bewertete das Ganze aus einem gesicherten   BvH: Nach dem Studium haben Volker und ich in einer sehr
                                Abstand heraus neu, auch den Niedergang der saarländi-  großen Altbauwohnung schöne Ateliers gehabt. Mir war das
                                schen Schwerindustrie. Mit dem Zeichnen schob sich eine   Leben und Arbeiten zu nah. Nach dem Referendariat hat die
                                Trennlinie zwischen mich und meine Vergangenheit, ich   Stadt Saarbrücken ein ehemaliges Schulhaus zur Verfügung
                                konnte loslassen.                                   gestellt, sodass ich einen hellen, warmen, trockenen und
                             BvH: Auch bei mir endete bald das Interesse an Industrie, aber   günstigen Klassenraum mieten konnte. Es war sensationell,
                                auch an der Landschaft oder dem Portrait. Stattdessen ver-  dass ich dort an meinen großen Formaten weiterarbeiten
                                folgen mich Themen und Motive der Weiblichkeit über die   konnte. Als das Gebäude wieder Schule wurde, setzte sich
                                Jahrzehnte.                                         Oskar Lafontaine für ein weiteres, leerstehendes Schulge-
                             WF: Wie kommt es, dass du dich so intensiv mit deiner eigenen   bäude ein. Wieder ein großes Glück! Diese Ateliers konnte
                                Person beschäftigst?                                ich von 1989 bis 2001 genießen. In Witten bei Dortmund
                             BvH: Grundsätzlich nutze ich keine Fotografie. Weil ich sehr   mieteten wir erst eine ehemalige Werkstatt, dann kauften wir
                                lange Arbeitszeiten habe, muss es aus praktischen Gründen   ein ehemaliges Schulgebäude. Das sind ideale Bedingungen.
                                das Selbst sein. Außerdem mag ich die nackte Existenz. Das
                                heißt keine modische Umhüllung, keine Kleidungsstücke,
                                die etwas verdecken. Mit mir darf ich jede Verletzung, jede
                                Dehnung oder jede – vielleicht manchmal in den Augen
                                anderer – unschöne Situation zeigen. Bei anderen würde ich
                                eine Grenze überschreiten. Es gab immer die Möglichkeit,




























                                Atelier Saarbrücken, 1991                            Atelier Witten, 2013
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