Page 53 - neu 9.4.2024 textkorrektur.indd
P. 53

Wunden










                                WF: Über körperliche Unzulänglichkeiten und Defizite zu   sich Blockaden. Ich ging nicht den Weg der Selbstzerstö-
                                  sprechen, birgt ein großes Risiko in sich, denn alles, was in   rung, obwohl mein Körper mir kaum ein Zuhause bot.
                                  der Kunst zum Ausdruck kommt, könnte damit erklärt und   BvH: Es gibt auch seelische Bedingungen für ein starkes
                                  in Verbindung gebracht werden. Es kostet uns Überwindung.   Selbst. Wir beide erhielten nicht genügend Bejahung in der
                                  Was unsere Handicaps unterscheidet, ist die Sichtbar-  Kindheit. Meine seelische Beschädigung ist sicher weitaus
                                  keit. Meine Krankheit blieb für die Außenwelt weitgehend   heftiger als die körperliche. Mir nahmen Gewalt, Streit und
                                  verborgen. Ich erinnere mich an Phasen in der Kindheit,   Demütigung in der Familie Selbstsicherheit.
                                  in denen es mir regelmäßig nach dem Essen schlecht war.   WF: Ich glaube, ich war meinen Eltern in vielerlei Hinsicht eher
                                  Damals dachte ich, das sei normal. Nach zehn Jahren   fremd. Es gibt zum Beispiel kaum Fotos von mir aus der
                                  Odyssee als Jugendlicher durch unzählige Arztpraxen und   Kindheit.
                                  dem Verdacht einer psychosomatischen Ursache stand die   BvH: Ich erhielt vor allem durch schulische Leistung eine
                                  Diagnose Colitis ulcerosa fest, einer unheilbaren Krank-  gewisse Zuwendung. Leider zogen wir in meinen ersten
                                  heit. Ich verstand die Tragweite anfänglich nicht und war   13 Jahren sechs Mal um, mit fünf Schulwechseln. Ich war
                                  erleichtert, dass es einen Namen für meine Leiden gab.   gezwungen, mich ständig neu einzufügen und äußerst diszi-
                                  Doch die Krankheit bleibt mein ständiger Begleiter.  pliniert Unterrichtslücken aufzuholen.
                                BvH: Woran leidest du heute mit deinem nicht immer funktio-  WF: Die Frage, ob die vielen Demütigungen, die ich in den
                                  nierenden Körper?                                 Grundschuljahren hinzunehmen hatte, zur Entwicklung der
                                WF: Um die Jahrtausendwende war die Krankheit am Höhe-  Colitis beitrugen, ist aus heutiger Sicht schwer zu beantwor-
                                  punkt angekommen; ich nahm stark ab und wurde intensiv   ten. Selbstsicherheit gaben sie mir jedenfalls nicht.
                                  behandelt. Ich trinke seither keinen Alkohol mehr und   In deiner Malerei ist so viel Leben, in einem so großen
                                  ernähre mich vollwertig. Solch eine disziplinierte Lebens-  Farbreichtum. Du zeigst auch die Schönheit! Doch dann
                                  weise stößt in Gesellschaften nicht immer auf Verständnis.   entdeckt man den toten Hund, die ausgestopften Krähen
                                  Ich muss mich oft erklären und rechtfertigen. Heute habe   oder den vergammelten Kürbis. Alles ist versehrt, Hülle
                                  ich die Colitis dank dieser Maßnahmen und der Einnahme   oder Vergänglichkeit in einem undefinierten Raum. Deine
                                  von Medikamenten gut im Griff, sie stellt keine größere Be-  Ich-Figur hingegen strahlt Stille und Andacht aus. Wie er-
                                  einträchtigung mehr für mich dar.                 klärst du dir das?
                                BvH: Ich muss Hunderte von Physiotherapieeinheiten, extrem   BvH: Ich hatte immer furchtbare Angst vor Dekoration und
                                  viele Arztbesuche, häufige Röntgenaufnahmen, viele   Glättung!
                                  Hilfsversuche wie Bandagen nennen, weil ich eine schwere   WF: Das lässt mich etwas schmunzeln. In deinen Bildern geht
                                  Skoliose habe. Das intensive Schwimmen, zwischen drei bis   es doch manchmal zu wie in einem Schlachthaus. Von
                                  sechs Mal in der Woche, stärkt mich. Eine hoch riskante   Dekoration oder Glättung ist da jedenfalls nichts zu sehen,
                                  OP lehnte ich ab. Ich hatte aber seit Jugendzeiten Angst   eher von Kälte und Distanz. Du könntest etwas mehr
                                  vor dem Blick von hinten und mir komische Verhalten zu-  Leichtigkeit zulassen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen
                                  gelegt, um weniger beobachtet zu werden. Zudem war die   zu haben.
                                  Suche nach weiter Oberbekleidung aufwändig.       Wir konnten beide nie ganz unbekümmert leben und
                                  Nie versuchte ich, meinen Rücken in die Malerei einzufüh-  arbeiten. Dafür waren die körperlichen und zeitweilig auch
                                  ren. Den Narben, dem zeitweiligen Übergewicht oder den   materiellen Voraussetzungen nicht gegeben. Doch vielleicht
                                  Venen stellte ich mich. Mehr konnte ich nicht aushalten.  haben uns gerade unsere körperlichen Unzulänglichkeiten
                                WF: Ich wollte meine Erkrankung auch nie zum Gegenstand   und Einschränkungen vor Anpassung und Belanglosigkeit
                                  meiner Kunst machen. In Biografien erwähnte ich sie nicht.   bewahrt.
                                  Dabei zähle ich den Kampf gegen diese schwere Erkran-
                                  kung mit zu meinen größten Lebensleistungen. Das daraus
                                  resultierende seelische Leid jedoch hat sich in den schweren
                                  Jahren in meine Bilder geschrieben. Man spürst die voll-
                                  kommene Verzweiflung z.B. in den großen Zeichnungen,
                                  die auf dem schroffen Betonboden meines Ateliers in
                                  Ludwigsburg entstanden sind. Dieses aggressive, ganzkör-
                                  perliche Zeichnen war grenzwertig, weil ich blutende Hände
                                  und aufgescheuerte Knie zuließ.
                                BvH: Hatte deine Kunst etwas Therapeutisches? Ging es dir
                                  danach besser?
                                WF: Zumindest hat die Kunst zeitweilig von der Krankheit ab-
                                  gelenkt. Beim Zeichnen vergaß ich die Schmerzen, es lösten




                                                                                   51
   48   49   50   51   52   53   54   55   56   57   58