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Hochschullehre
WF: Expressionismus, Impressionismus, Futurismus, Kubis- WF: Ich versuche, die Studierenden von Umrisslinien eher
mus, Manierismus, Pluralismus und der Dilettantismus: wegzuführen und stattdessen in die Formen hineinzugehen:
Manche würden am liebsten jene Ahnungslosigkeit, mit „Stellen Sie sich vor, eine Ameise läuft über ihren Finger,
der sie zu Werke gehen, zur Kunstform erklären. Das dann über die Hand und zieht einen Faden hinter sich her.
künstlerische Tun, also die Zeichen- und Maltechniken Dieser Faden ist Ihre Linie, die aus Ihrem Stift fließt!“
sind erlernbar, die Kunst an sich, das Was und das Warum Wir zeichnen, ohne auf das Blatt zu schauen. Die Linie löst
sicherlich nur bedingt. Denn Kunst kommt eben nicht nur sich vom kontrollierenden Verstand und folgt der reinen
von Können. Sie kommt aber auch nicht von Nichtkönnen. Anschauung. Wir wollen nicht zeichnen, was wir wissen,
Sie ist ein komplizierter Mix aus Handwerk, Geschick, sondern zeichnen, was wir sehen. Von Alberto Giacomettis
Intelligenz, Begabung, Talent, Genie, Instinkt, Zufall und Radierungen und Zeichnungen können wir lernen, wie eine
die Fähigkeit des Künstlers, allem skeptisch gegenüber zu Figur im Raum verankert ist und wie Zwischenräume zum
treten, was unumstößlich und gesichert erscheint. Thema werden. Andere Übungen zielen auf das Zeich-
Ich glaube an die Lehrbarkeit von künstlerischen Heran- nen aus dem Gedächtnis mit geschlossenen Augen. Der
gehensweisen. Wer sich auf Unbekanntes einlässt, erweitert Zeichenstift folgt den aufsteigenden Bildern und verlässt
seine Ausdrucksmöglichkeiten. Es geht mir in der Lehre dabei nicht das Blatt. Im Aktzeichnen lasse ich die Plätze
darum, die Studierenden durch Angebote darin zu beglei- tauschen, um die Fehler in den Zeichnungen der Anderen
ten, ihren eigenen Weg zu finden: Welches Medium kommt zu finden und zu korrigieren. Dabei wird deutlich, wie
zum Einsatz und wie gehe ich damit um. Was ist mein unterschiedlich die gleiche Ausgangssituation von ver-
künstlerisches Anliegen und wie finde ich dafür eine Form. schiedenen Personen wahrgenommen und umgesetzt wird.
Ich zeige in meinen Zeichenseminaren gerne Beispiele aus Wenn ich dieses Spiel weit genug treibe, kommt es zu einer
der Kunstgeschichte wie das An- und Abschwellen der Art Herdenintelligenz, grobe Fehler verschwinden, viele
Linien in Dürers Formschraffuren, die flächigen Kreuz- werden mutiger und entschiedener. Es kehrt eine größere
schraffuren von Morandi, die gestischen Pinselstriche Übereinstimmung mit der „Realität“ ein. Man könnte sagen,
Rembrandts oder die kühnen Schrägschraffuren bei dass die Summe subjektiver Sichtweisen ein höheres Maß an
Mantegna. Es ist ein technischer und geistiger Fundus, Objektivität hervorbringt. Es sind wichtige Erkenntnisse, die
aus dem wir noch heute schöpfen können. einem helfen, die eigene Wahrnehmung besser zu verstehen.
In meinen Seminaren biete ich Zeichenübungen an, die zu Ich vermittele Methoden und Strategien, das begriffliche
einer entspannten Arbeitsweise mit dem Stift führen. Das Denken zu umgehen, um dem Unterbewusstsein mehr
ständige Kreisen mit dem Bleistift auf der Stelle dient z.B. Raum zu geben.
dazu, beim Zeichnen loszulassen und Energien zu spüren. BvH: In der Lehre der Graphik geht es mir um die Spanne
Die Linien kommen mehr aus dem Bauch als aus dem zwischen expressiv-prozessualen und konzeptuellen Hand-
Kopf. Wichtig ist mir auch die Übung, aus einem anfäng- lungen. Sowohl klassische Herangehensweisen als auch me-
lichen Hin- und Herbewegen auf der Stelle zu einer Ellipse diale Erweiterungen können zu gültigen Findungen führen.
zu gelangen, die sich immer mehr öffnet und schließlich Viele Zeichner*innen arbeiten aus direkter Beobachtung
zu einem Kreis wird. Bei dichten Überlagerungen der und untersuchen die bewegte Umgebung, die alle Sinne an-
Striche ergeben sich daraus kugelartige Schwärzungen, spricht. Standort- und Proportionswechsel werden so mög-
die Volumen und Raum beschreiben. Eine weitere Übung lich. Ziele können die Diversität von Abstraktionsgraden,
beschäftigt sich mit langgezogenen Linien, die parallel Blickwechseln und Strichführungen sein. Bilderzählungen
geführt werden, ohne sich dabei zu berühren. Man spürt speisen sich oft aus Kombinationen von direktem Erleben,
den eigenen Atem, der Strich verlangsamt sich, wird immer fotografischen Fundstücken und aus dem Erinnern.
feiner und sensibler. Wie du weißt, biete ich keine Übungen an, keine Strategien
BvH: Dieses Seismographische strebe ich ja auch in meinen werden gelehrt. Alle Studierenden beginnen bei mir mit
eigenen Zeichnungen an, nur, dass ich die Oberflächen- einer gewissen Überforderung und suchen – im Gespräch
beschaffenheiten eher negiere und alle Objekte „streichele“. mit mir und in der Gruppe – nach ihren persönlichen
Die linearen Gespinste sind gleich, obwohl sie Verschie- Wegen. Ich zeige sehr viel zeitgenössische und Kunst aus
denes beschreiben. Ich entdecke im Tun, meist über die den letzten 500 Jahren und vermittele dabei ein Sprechen
Kontur. Alle eigenen Erfahrungen bereichern die Lehre. über Kunst. Die Studierenden müssen ebenfalls versuchen,
Ganz wichtig ist es mir jedoch, auch das Gestische, das sich möglichst präzise über ihr Tun und das der anderen
Malerische oder das „Coole“, also alle Ausdrucksformen zu zu äußern. Meiner Meinung nach muss niemand alles er-
befördern. Zudem vergab ich zahlreiche Lehraufträge in der probt haben und kann sich sehr früh eine spezielle Art der
Graphik, um Breite in der Lehre herzustellen. Völlig andere Wirklichkeitsaneignung zulegen. Man sollte eine künst-
künstlerische Positionen konnten wirksam werden und lerische Haltung lehren, keine Techniken. Wenn man sie
halfen, Engführungen zu vermeiden. braucht, kann man die sich später aneignen. Leidenschaft,
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