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„lichterloh“




        Fotografie 1988 – 2022, Palais Walderdorff, Trier, 07.01. – 05.02.2022




      BvH: Wir sitzen heute in deiner Ausstellung „lichterloh“. Im Erd-    vorhanden sind. Besteht die Blende aus einer ungeraden
        geschoss hängen zwei große Panoramaaufnahmen, und im   Anzahl von Lamellen, werden doppelt so viele Strahlen
        ersten Stock sehen wir frühe Schwarz-Weiß-Fotos von Dir.   wie Lamellen erzeugt. Mir ist es nicht immer recht, wenn
        Beginnen wir mit dem ersten Stock. Diese fotografische Welt-  auf jedem Foto, auf dem eine Lichtquelle zu sehen ist, diese
        aneignung ist ein ganz großer Strang. Sie bildet allein eine   Sterne entstehen. Ich kann es aber auch nicht verhindern, sie
        Art Lebenswerk. In der analogen Fotografie, die du ja extrem   gehören einfach mit dazu.
        experimentell aufgefasst hast, entstanden surreale Geschich-  BvH: Die Farbzusammensetzung, Rhythmik und atmosphärische
        ten über den Tod, deine Kindheit und über deine Heimat,   Wirkung gehen über den Dokumentationscharakter hinaus.
        die sehr berührend sind. Soldaten und Zerstörer sollten   Du befragst immer wieder die modellierte Natur. Willst du
        ursprünglich Bildmaterial und Zeichenvorlagen sein. Sie sind   mit deinen Bildern anklagen?
        nun ausdrucksstarke Fotografie geworden, weil gerade dieses   WF: In meinen Bildern denke ich künstlerisch, nicht politisch.
        Experimentelle immer noch sichtbar ist.           Ich mache mit meinen Fotos sichtbar. Vielleicht ist das die
      WF: Schon sehr früh habe ich mit dem Fotografieren begon-  politische Dimension in meinem Schaffen. Meine Fotos von
        nen. Anfänglich nur auf Reisen, wurde die Kamera während   den BASF-Anlagen in Ludwigshafen oder Neckarwestheim,
        des Studiums und danach zu meinem ständigen Begleiter.   auch Stammheim sind schön und abstoßend zugleich. Lasse
        Aus Geldmangel konnte ich oft nur Kontaktabzüge von den   ich mich von dem Schein verführen oder folge ich meinem
        Negativen machen, bevor ich sie archivierte. Es waren schät-  Verstand? Wenn ich nur politisch denken würde, müsste ich
        zungsweise Tausende von Fotos die niemand sah und die ich   mir solche Überlegungen verbieten.
        während der Coronazeit digitalisierte.          BvH: Das Bild „Corona Drive in“ schwingt überall, selbst in der
        Ab etwa 2000 diente mir die digitale Fotografie ausschließlich   Zone des Himmels. Durch seine Strukturierung wirkt es
        dazu, meine Kunstprojekte zu dokumentieren oder Reise-    ungeordneter.
        notizen zu machen. Erst in den letzten Jahren bekam meine   WF: Die Theresienwiese ist normalerweise ein Festplatz, auf dem
        Fotografie einen anderen Stellenwert, sie wurde eigenständig.    Jahr- oder Flohmärkte abgehalten werden. Ein Teil von die-
        Während der Pandemie lebte ich in einer Ausnahmesitua-  sem Platz wurde für eine Corona-Teststation abgetrennt. Das
        tion. Ich hatte praktisch kein Einkommen mehr. In dieser   viele Grün erinnert ein wenig an einen Garten und eine Idylle
        bedrückenden Situation begann ich intensiv zu fotografieren.   – das täuscht! Auf der linken Seite standen über Nacht unzäh-
        An menschenleeren Orten fühlte ich mich während meiner   lige Lastwagen. Als ich das Foto machte, roch es dort beißend
        nächtlichen Ausflüge mit der Kamera vor einer Infektion   nach Urin. Für mich hat das Foto viel Gespenstisches, weil ich
        sicher. So entstanden innerhalb eines halben Jahres unzählige   dort nachts unweit der Stelle stand, an der die Polizistin
        Aufnahmen in meiner näheren Umgebung.             Michèle Kiesewetter 2007 erschossen wurde. Ende Oktober
      BvH: Im Erdgeschoss hängt das sieben Meter lange Panoramafoto   fiel die Temperatur auf null Grad, und sowohl Kamera als
        „Bosch“. Es ist kein Glas vor dem Bild, man kann ihm direkt   auch Stativ waren mit Kondenswasser bedeckt. Nach jedem
        gegenübertreten und seine Überfülle erfahren. Es leuchtet   Bild musste ich die Linse trocknen. Auf dem Foto scheint alles
        stark! Wir sehen eine Lichtinsel im Schwarzen ruhen. Sehr   aus sich heraus zu glühen, niemand denkt dabei an Frost.
        schnell denkt man an eine maschinell gefertigte Spielzeug-  BvH: Das Zentrum deines Interesses ist die Dingwelt. Der
        welt. Selbst die Bäume wirken wie eine Serienanfertigung.  Mensch findet sich durch Dinge repräsentiert oder in den
      WF: Beim Fotografieren war ich ungefähr zwei Kilometer von   Randzonen. Was hat dich an den Portraits dieser Menschen
        diesem „Leuchtkörper“ entfernt auf einem Weinberg. Die   auf den Fotos von 1988 im weiteren Sinne interessiert?
        Aufnahme dauerte rund drei Stunden. In diesem Panorama   WF: Diese Personen stammen fast alle aus meiner Verwandt-
        stecken fast 130 Einzelbilder. So kommt die enorme Schärfe   schaft. Mathilde etwa war herzkrank und von Geburt an ein
        zustande. Warme und kalte Lichtquellen vermischen sich mit   Pflegefall. Sie verbrachte ihr Leben im Bett. Noch gut kann
        eher neutralem Licht. Die Fotos bearbeite ich sehr sparsam.   ich mich an die vielen Kopfkissen erinnern, die ihren Rücken
        Störquellen werden nicht entfernt. In seltenen Fällen ver-  stützten. Als Kind dachte ich noch, sie wird bald wieder
        ändere ich die Helligkeit, damit sich mehr Zeichnung in den   gesund. Doch dieser Zustand quälenden Siechtums hielt ein
        tiefschwarzen Flächen zeigt. Wie das Endprodukt einmal aus-  ganzes Leben an.
        sehen wird, kann ich vor Ort nur erahnen. Das surreale Orange   BvH: Bei „Mathilde“ gab es eine karge Aufgeräumtheit, die ihre
        oder das Giftgrün hat der Kamerachip so aufgenommen!   Räume gesichtslos erscheinen lassen. Vielleicht kann man es
      BvH: Besonders mag ich den Parkplatz, weil die Lampen wie   eine standardisierte Möblierung nennen.
        Wunderkerzen ausschauen. Es entsteht eine gemusterte   WF: Ich weiß nicht, ob meine Angehörigen damals vor unserem
        Landschaft!                                       Besuch extra aufräumten oder ob es dort immer so aussah.
      WF: Diese Wunderkerzen sind mit dem bloßen Auge nicht sicht-  Vermutlich stand dahinter der zwanghafte Wille, nach außen
        bar. Die Sterne entstehen als Lichtbrechung an den Lamellen-  ein tadelloses Bild abzugeben.
        kanten der Blende. Die Anzahl der Strahlen eines Blenden-    Es gab zwei Häuser im saarländischen Rehlingen, die von vier
        sterns ist von der Anzahl der Blendenlamellen abhängig.   Schwestern und deren Mutter bewohnt wurden. Die Mutter,
        Sofern die Blende aus einer geraden Anzahl von Lamellen   Anna, war die Schwester meiner Stiefgroßmutter Maria, also
        besteht, werden so viele Strahlen gebildet, wie Lamellen   der zweiten Frau meines Großvaters Christian, väterlicher-  Bosch, 2020,
                                                                                                          Fine Art Print, 100 x 714 cm
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