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Links vom Spiegel sind die betenden Hände von Dürer als   besonders berührend. Letztlich geht es um eine Art des Ab-
        Weihwasserkessel mit einem Palmenzweig zu sehen. Über   schiednehmens, zehn Jahre vor seinem Tod. Fast die gesam-
        diesem Arrangement hängt ein Foto meiner Schwester mit   te Serie zeigt lethargische Züge. Nur wenige Fotos weichen
        ihrem Mann und ihren Kindern. Direkt daneben sehen wir   von dieser müden Trägheit ab.
        eine ergreifende Pieta. Es sind diese seltsamen Zusammen-  WF: Im Fotolabor hatte ich irgendwann die Idee, meine Fotos
        stellungen von Dingen, die mich in meinem Elternhaus   nur noch als Ausgangsmaterial zu nutzen. Mit dieser eher
        interessierten.                                   experimentellen Arbeitsweise näherte ich mich wieder mehr
     BvH: Wie hast du es geschafft, die Intimitätsgrenze bei deinen   der Graphik und Malerei an.
        Aufnahmen zu überschreiten?                     BvH: Kannst du denn schätzen, wie viel du von all deinen Foto-
     WF: Diese Symbole katholischer Strenggläubigkeit waren kei-  Serien nicht zeigst?
        nesfalls unüblich oder peinlich. Deshalb empfanden meine   WF: Von allem, was ich zwischen 1988 und 1994 fotografierte,
        Eltern mein Fotografieren nicht als übergriffig. Meine    zeige ich hier etwa fünf Prozent!
        Mutter pilgerte z.B. nach Lourdes und brachte geweihtes
        Wasser in einer Flasche in Form einer Marienstatue mit.
        Die Krone war der Schraubverschluss.
     BvH: In dieser Ausstellung zeigst du eine Auswahl aus einem
        riesigen Konvolut. Berühren dich diese Bilder immer noch?
     WF: Heute gibt es eine gewisse innere Distanz, in den 60er und
        70er Jahren war ich mittendrin. Der Ölgeruch von unseren
        Öfen, der Benzingeruch von Vaters Mofa im Flur, der
        Katzengeruch oder die Wäscheständer auf den Tischen –
        das alles löste damals bei mir Fluchtgedanken aus. Das
        kommt natürlich alles hoch, wenn ich die Fotos sehe. Über
        das Ablichten konnte ich besser loslassen.
     BvH: Du stellst niemanden bloß. Es ist ein Wundern und Fest-
        stellen. Lass uns über die „Es Otto Anna“-Serie reden. Die
        Puppen wirken billig und sind liebevoll arrangiert. Angerei-
        chert werden sie mit Stofftieren, Puzzeln, geblümten Sesseln,
        Jahrmarktartikeln, einer Windmühle oder anderen sonder-
        baren Dingen. Alles lädt keinesfalls zum Spiel ein! Wie kam
        es eigentlich, dass du mit dieser Frau vertraut wurdest?
     WF: Frau Otto wohnte zwei Häuser weiter von uns. Als ich als
        Jugendlicher an diesem Haus vorbeiging, saß sie meist am
        Fenster. Sie konnte nur noch eingeschränkt gehen. Wenn
        ich ihr Einkäufe mitbrachte und durch das Fenster reichte,
        konnte ich an ihr vorbei spähen und diese „Rauminstallation“
        betrachten. Im Studium interessierte ich mich immer mehr
        für solche Versuchsanordnungen. Ein Mensch äußert sich
        dadurch, dass er etwas sammelt, gruppiert und in Bezüge
        bringt. Bei einem Besuch habe ich ihr dann erklärt, ich müsse
        in meinem Studium eine Reportage über Menschen machen,
        die ich ungewöhnlich finde.
       Diese Tierchen und Puppen wirkten wie beseelt. Sie standen
        in Blickkontakt. Das war keinesfalls ein leb- und liebloses An-
        häufen von nutzlosem Zeug, sondern ein gezieltes Gestalten.
        Diese Wesen bevölkerten und beherrschten ihre Wohnung.
        Das war für mich beeindruckend, aber nicht fremd.
     BvH: Das Besetzen von Räumen kann pathologische Züge an-
        nehmen. Wir können nur vermuten, ob sie eine Sozialpho-
        bie hatte oder in ihrer Jugend vernachlässigt wurde.
     WF: Ich lasse das, was ich da vorfinde, für sich sprechen.
        Wenn mein Vater die Steuererklärung machte, zog sich das
        oft über Monate hin. Es blieb mir immer ein Rätsel, was
        mein Vater die ganze Zeit hinter verschlossener Tür machte.
     BvH: Beim Entwickeln ist deine Lust am Experiment mit den
        Materialien gewachsen. Deine Vater-Serie ist für mich







                                                          Es is noch net so, wie`s senn soll, 1990,
                                                          Barytpapier, 16 x 24 cm
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