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„Nachtstücke“




        Fotografie 2021 und 2022, Walldorf, 27.04. – 24.06.2022




      BvH: Du hast diese reiche und recht langweilige Stadt Walldorf er-
        kundet. Es sind menschenleere, nächtliche Bühnen geworden.
      WF: Die spärliche Beleuchtung, das Aufgeräumte und die voll-
        kommene Sauberkeit dieser Stadt forderten mich heraus!
        Fast in völliger Dunkelheit aufgenommen, war das Ergebnis
        meiner nächtlichen Ausflüge offen und umso überraschender.
      BvH: Du hast dich völlig neu hineingedacht in das Heile, etwa in
        den Baumbeschnitt, die Sauberkeit, das Gepflegte und Über-
        dimensionierte.
      WF: In vielen Städten fällt es leicht, Motive zu finden, wie z.B.
        in Ludwigshafen an der BASF, in Hongkong auf dem Markt
        oder in Chicago zwischen den Häuserfluchten. In Walldorf
        liegen die Motive nicht so augenfällig auf der Straße. Hier
        entdeckte ich nach langem Suchen die Kreisel! Sie wirken
        wie Altäre oder Kultstätten. Dann die vielen, ganz neuen und
        vorbildlich gepflegten Sportanlagen. Alles erinnerte mich an
        zu groß geratene Architekturmodelle. Auf der einen Seite ein
        gewachsenes Dorf und auf der anderen Seite ein wuchernder
        Wirtschaftsstandort.
      BvH: In deinen Bildern ist Ungreifbarkeit, vor allem in den
        Himmeln. Der Bildaufbau ist oft ähnlich mit einem mittleren
        Betrachter*innenstandpunkt.
      WF: Der Betrachter*innenstandpunkt resultiert aus einer techni-
        schen Notwendigkeit innerhalb der Panoramafotografie. Die
        Kamera muss ich stets in der Lotrechten halten, damit keine
        Verzerrungen entstehen. Dadurch ergeben sich diese mensch-
        bezogenen Sichten. Ich verstehe diesen ausgesuchten Stand-
        punkt aber auch als meinen Standpunkt, also meine Sicht,
        meine Meinung.
      BvH: In Walldorf sind auch fantastische Musikstücke entstanden,
        die dich im Spiel zeigen. Du agierst mit Becken, Töpfen, dem
        Kunstledersofa und Alltagsgegenständen.
      WF: Bei der extremen Kälte im Januar und Februar konnte
        ich nicht länger draußen fotografieren, weshalb ich meine
        Wohnung kurzerhand zu einem Tonstudio umfunktionierte.
        Mikrofone, Gebrauchsgegenstände wie Töpfe und Pfannen
        wurden mit Sitzmöbeln zu einer Versuchsanordnung
        zusammengestellt. Nach und nach brachte ich schließlich
        mein komplettes Schlagzeug aus Ludwigsburg mit nach Wall-
        dorf. Ich konzentrierte mich ganz auf den Klang der Gegen-
        stände, entlockte ihnen Rhythmen und Tonfolgen. Aus den
        langen Improvisationen schnitt ich am Ende kleine, dichte
        Minutenstücke heraus. Ich konnte nur nachts spielen, weil ich
        tagsüber andere im Haus gestört hätte.
      BvH: Du hast jeweils keinen klaren Anfang und kein klares Ende.
        Es wirkt wie ein stockendes Atmen mit Aussetzern. Immer
        sind da eine extreme Körperspannung und wieder eine Auflö-
        sung. Du bringst auch deine langen Erfahrungen mit Tai Chi
        ein, auf ironische Art.
      WF: Im Display der Kamera sah ich mich wie in einem Spiegel.
        Anfänglich hatte ich gar nicht vor, mich in dieser Weise zu
        bewegen. Doch dann kam die Erinnerung an meine Übun-
        gen vor dem Spiegel von damals zurück. Plötzlich war ich in
        dieser Figur vor mir, bewegte sie und ließ sie auf die Becken
        schlagen. Ein sehr seltsames Stück.


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