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Die frühen Videos










      BvH: In der Pandemie hast du dich in das Schneiden von Filmen   siver wahrzunehmen, legte ich meinen Kopf auf den Tisch.
        eingearbeitet und deine Videos aus den späten 80er und   Die Schwingungen der Tischplatte und der Stühle gelangten
        frühen 90er Jahren aufbereitet. Ich liebe den Vorlesungssaal.   so ungehindert in mein Ohr, drangen noch tiefer in diese
        Eigentlich ist es ein Video, jedoch sind es so wenige Bewegun-  Leere, in diesen weiten Raum, in dem sich alles ereignen
        gen, dass ich es Bild nennen mag. Das Zentrum ist ein Auge,   kann. Ich wurde mit der Zeit leichtsinniger, trommelte
        welches eigentlich der aktivste Teil des Bildes ist. Im ganz   immer lauter auf den Tischen und Stühlen, bis eines Nachts
        Kleinen ist der Ellenbogen in Bewegung, aber das Auge bringt   der Hausmeister, mit einem Beil bewaffnet, in der Tür stand.
        die meiste Energie mit sich. Hinzu kommt die Faszination,   BvH: Wie kamst du auf diese strenge Komposition?
        wie du eine so große Klangvielfalt erzeugen kannst.  WF: Ich stellte die Kamera so auf ein Stativ, dass besonders
      WF: Das Video ist 1992 entstanden. Weil ich eine Allergie gegen   mein Auge zu sehen war. Mit zwölf Jahren begann ich
        Lösungsmittel hatte, konnte ich nicht in den gemeinschaft-  Schlagzeug in einem Jugendorchester zu spielen. Ich fand
        lichen Ateliers arbeiten. Dort fanden nämlich damals in den   die Flöten-, Melodica- und Akkordeonklänge grauenhaft
        80er und frühen 90er Jahren, inspiriert durch die „Neuen   und wollte nie etwas anderes spielen als Schlagzeug. Im
        Wilden“, regelrechte Materialschlachten mit viel Öl und   Fernsehen sah ich z.B. Charly Antolini, Buddy Rich oder
        Terpentin auf überdimensionierten Leinwänden statt. Um   Gene Krupa, später Ginger Baker oder Ian Paice von Deep
        diesem ungesunden Treiben zu entgehen, wich ich auf die   Purple und war begeistert. Mit 18 Jahren war ich der Musik
        Gänge aus oder arbeitete im Freien. Irgendwann entdeckte   sicherlich näher als der Bildenden Kunst.
        ich den Vorlesungssaal als riesiges Atelier für mich. Ich   BvH: Siehst du Zusammenhänge zu der Arbeit von heute?
        nutzte ihn zwischen den Vorlesungen und nachts. Es ent-  WF: Das Spielen einer Schlagfolge, wie z.B. den Paradiddle, hat
        standen dort große Bleistiftzeichnungen auf Rollenpapier,   auf Dauer etwas Meditatives. Ende der 80er begann ich, Tai
        das ich auf eine entsprechend große Spanplatte tackerte. Die   Chi zu erlernen. Es geht in dieser fernöstlichen Bewegungs-
        Zeichnungen bestanden aus lauter kleinen schwarzen Punk-  meditation darum, Körperenergie zum Fließen zu bringen.
        ten, die sich in mehreren Schichten auf der riesigen Fläche   Gleichzeitig intensivierte ich das Eislaufen. Ich sah zwischen
        ausbreiteten. Ich ließ mich von einem Ameisenhaufen   den einzelnen Disziplinen innere Zusammenhänge. Es geht
        inspirieren, also das krasse Gegenprogramm zu dem, was   um entschleunigte, konzentrierte, fließende Bewegungen
        sich in den Ateliers abspielte. Ich brauchte diese meditative   und beim Eislaufen zudem um Entschiedenheit und Mut.
        Arbeitsweise, um zur Ruhe zu kommen und um nachzu-  Ich suche nicht die Perfektion oder Akrobatik in der Musik.
        denken: Wozu zeichne ich? Was ist Kunst? Was ist ein Bild?   Auch heute geht es mir nicht um Virtuosität, sondern eher
        Wo kommen meine Bilder her? Fragen, die im Grunde nicht   um das Zeichnen mit Klängen.
        wirklich zu beantworten sind, aber die sich mit jedem Tag,
        den ich an der Akademie zubrachte, neu stellten.
        Das Video entstand in dieser Zeit. Zur Entspannung begann
        ich oft auf den Tischen und Stühlen zu trommeln. Meine
        rhythmischen Klänge durchbrachen die nächtliche Stille,
        jeder einzelne Schlag ging durch und durch. Ich brauchte
        das, um auch mein Gehör zu beschäftigen. In der Nacht hört
        man jeden einzelnen Ton viel klarer, weil störende Neben-  WF: Die Kuckucksuhren hatte ich mir aus dem Schwarzwald
        geräusche fehlen. Es gibt nur diesen einen Ton, dann den   mitgebracht. Sie sind rein mechanisch. Ihr Uhrwerk wird
        nächste und so weiter. Eines Tages beschloss ich, meine    durch eine lange Spiralfeder angetrieben, die gut sichtbar
        Videokamera mitzunehmen. Um das Klopfen noch inten-  außen unter einem Schwarzwaldhäuschen angebracht ist.
                                                          An dieser Feder hängt ein Schwarzwaldmädel aus Plastik
                                                          auf einer Schaukel. Versetzt man es in eine Auf- und Ab-
                                                          wärtsbewegung, wird dadurch das Uhrwerk angetrieben, die
                                                          Uhr beginnt zu ticken. Ich brachte während meiner Ausstel-
                                                          lungen drei dieser Uhren an und drehte an den Stellrädchen,
                                                          die für den präzisen Lauf der Uhrwerke verantwortlich sind.
                                                          Am Ende hatte jede Uhr eine andere Pendelgeschwindig-
                                                          keit. Das laute Ticken der Uhren brachte einen seltsamen
                                                          Rhythmus hervor, der manchmal an einen Trommelwirbel
                                                          erinnerte. Interessanterweise gab es nach einer gewissen
                                                          Zeit Verschiebungen, hin und wieder auch Gleichklänge.
                                                          Der Höhepunkt war dann erreicht, wenn alle drei Uhren
                                                          sich synchron bewegten, um dann wieder aus dem Takt zu   Vorlesungssaal, 1992
                                                          geraten. Ich fand diese kleine Demonstration zufälliger    Spieldauer: 1:42 Min.
                                                          Begebenheiten sehr spannend, ein Ereignis zwischen    Schnecke, 1990,
                                                          Harmonie und Disharmonie.                           Spieldauer: 6:22 Min.
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