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WF: Die Fahrt zur Akademie war gleichförmig und vorher-  BvH: Warum ist der Krieg Thema in deiner Kunst geworden?
                                  sehbar. Ich postierte die Kamera auf dem Beifahrersitz   WF: 1990 war ich in Verdun, also einem der größten Kriegs-
                                  und filmte durch die Windschutzscheibe. Nichts wollte ich   schauplätze im ersten Weltkrieg. Selbst nach rund 100
                                  inszenieren, sondern alles aufzeichnen, was vor dem Auto   Jahren ist diesem Landstrich immer noch die Verwüstung
                                  geschah. Das Autoradio lief wie immer. Plötzlich drang in   von damals anzusehen. Neben einer großen Gedenkstätte
                                  diese Ereignislosigkeit Weltgeschehen: Der Golfkrieg hatte   und einem riesigen Gräberfeld gibt es dort auch ein
                                  begonnen. Die Bundesregierung verabschiedete Entwick-  Museum, in dem Waffen, Munition, Uniformen und sons-
                                  lungshilfe an China in Milliardenhöhe, dann das Wetter,   tiges Kriegsgerät ausgestellt sind. Wenige Filmdokumente
                                  grau, regnerisch und unter 10 Grad Außentemperatur, da-  sind aus dieser Zeit erhalten. Ich filmte aus der Hand direkt
                                  nach Peter Alexander. Langeweile trifft auf Beängstigendes.   von der Leinwand. Im Atelier fotografierte ich dann die
                                                                                    flüchtigen Bilder vom Bildschirm, machte davon Fotokopien
                                                                                    und schließlich davon Radierungen. Es war für mich so
                                                                                    etwas wie ein Verfestigungsprozess, den ich dem Auflösen,
                                                                                    Verfallen und Vergehen entgegenstellte. Die Videos gerieten
                                                                                    in Vergessenheit, bis ich während der Pandemie alles aus
                                                                                    dem Archiv zum Digitalisieren vornahm. Nun konnte ich
                                                                                    endlich meine Filme bearbeiten, wie ich es damals gerne
                                                                                    getan hätte. Mit einem Schnittprogramm nahm ich einzelne
                                                                                    Sequenzen im Sekundentakt heraus, mischte sie und ließ sie
                                                                                    schneller ablaufen. Heraus kam eine heftige Bilderflut, die es
                                                                                    dem Betrachter unmöglich macht, einzelne Bilder zu erfas-
                                                                                    sen. Schon nach kürzester Zeit ist das Auge überfordert: hier
                                                                                    eine Explosion, da Truppenaufmärsche, der erste Panzer
                                                                                    und am Ende der rote Baron und Hermann Göring.
                                                                                    In meinem Ludwigsburger Atelier spielte ich täglich Schlag-
                                                                                    zeug. Es hallte entsetzlich von den Wänden, auch während
                                                                                    einer Tonaufnahme. Als ich 2021 die Verdun-Videos schnitt,
                                 Kuckucksuhren, 1991                                kam mir die Idee, den Film mit diesen Tonaufnahmen zu
                                 Spieldauer: 1:58 Min.
                                                                                    unterlegen, weil sie nach Maschinengewehrsalven und
                                                                                    Kanonendonner klingen.
                                 Weg zur Akademie, 1991
                                 Spieldauer: 16:17 Min.







                                WF: Das Schnecken-Video ist zur gleichen Zeit entstanden. Ich
                                  schuf eine strenge Situation, in der sich etwas ereignet. Die
                                  Schnecke fand ich in der Nähe meines Autos. Ich nahm sie
                                  mit, baute die Kamera auf und filmte, wie sie von der einen
                                  Tischseite zur nächsten kroch. Spannend wurde es, was
                                  passieren würde, wenn sie das Tischende erreichte. Sie führte
                                  völlig unbeeindruckt einfach ihren Weg fort, bis sie unter
                                  dem Tisch verschwand!
                                  Ich bin in meinen Videos minimalistischer geworden. Eine
                                  Forschungsidee bestand aus folgender Versuchsanordnung:
                                  auf einem Bein zu stehen und bis zur Schmerzgrenze auszu-
                                  halten. Also sperrte ich mich in einen leergeräumten, kleinen
                                  Raum ein. Nach einer knappen Stunde musste ich abbrechen.




 Vorlesungssaal, 1992
 Spieldauer: 1:42 Min.

 Schnecke, 1990,                                                                    Verdun, 1990,
 Spieldauer: 6:22 Min.                                                              Spieldauer: 1:02 Min.
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