Page 132 - neu 9.4.2024 textkorrektur.indd
P. 132

Zeichnen vor Ort










      BvH: Hakenkreuze habe ich wieder überall gefunden! In Italien   Zerstörungen, aus denen heraus ich mich neu erfinden
        sind diese Zeichen nicht verboten. Volker und ich waren   musste. Das gelingt mir nur, indem ich einen Schnitt mache,
        vier Tage in Lecce und dann fünf Tage in Bari. Von dort aus   also trenne und beende, sonst bleibt es ein Morast. Müsste
        sind wir nach Trani und Monopoli gefahren. Über den Tag   ich davon eine Zeichnung machen, würde die etwa so ausse-
        wechsele ich mehrfach die Orte und zeichne manchmal nur   hen wie deine Blätter, in denen alles klebrig zusammenhängt
        zehn, zwanzig Striche an einer Stelle. Eine Zeichnung kann   und ineinander übergeht. Mit dem Schließen von Formen
        sich zwei, drei Tage hinziehen. Ich markiere den Horizont,   verfestige ich, gebe den Dingen einen festen Platz. Die Sess-
        um alles perspektivisch einzuordnen. Sehr gerne finde ich   haftigkeit meines Elternhauses steht im krassen Gegensatz
        Skulpturen, etwa auf einem Friedhof in Lecce, oder Plakate   zu deinem nomadischen Leben als Kind und Jugendliche.
        mit werbenden Figuren oder figürliche Graffiti, die ich   Während bei mir alles an seinem angestammten Platz war,
        alle verlebendige. Nur sehr selten beobachte ich Menschen   ist bei dir alles in Bewegung gewesen. Vielleicht erklärt sich
        direkt, manchmal Betende oder auf Parkbänken Sitzende.   daraus einiges in unserer Kunst. Meine Bilder sind wie aus
      WF: Mit welchem Stift arbeitest Du? Nach welchen Prinzipien   Bauklötzchen. Die Teile kann ich hin und herschieben. Sie
        „baust“ du deine Zeichnungen?                     können sich durchdringen und überlagern.
      BvH: Einem Minenstift, 8B. Mit diesem Weichegrad kann ich die   BvH: Der große Unterschied zwischen uns ist, dass ich aus-
        Dinge auf dem Papier „erstreicheln“. Mich interessieren die   probiere, ob mir die Dinge gefallen, also suche, während du
        Maßstabverschiebung und ungewöhnliche Perspektiven auf   dich früher festlegst.
        Dinge. Manchmal entstehen nur zeichnerische Inseln, oft    WF: Ich denke und zeichne gleichzeitig. Oder besser: Das
        komische Einzelszenen, die ich in kreisenden oder land-  Zeichnen ist eine besondere Form des Denkens. Ich grübele
        schaftlichen Bewegungen verbinden möchte. Über die Kom-  selten. Im Sport ist es ähnlich: Wenn ich den Umweg über
        position kann ich zu Beginn nichts sagen. Sehr wichtig finde   das Denken mache, bin ich immer einen Schritt zu spät. Es
        ich bei der Platzsuche den Betrachter*innenstandpunkt. Ich   sind eingespielte Automatismen, die ich abrufe. Setzungen
        mag erhöhte Stellen, sodass der Horizont fast ganz oben am   im Bild sind Antworten auf bestimmte Konstellationen. Der
        Bildrand liegt, oder umgekehrt den fast totalen Unterblick.   Inhalt meiner Zeichnungen steckt mehr in den Linien selbst
        Die Fluchtpunkte berechne ich. Grundsätzlich gebe ich mir   und zueinander als im Gegenstand.
        bei aller Freiheit eine Ordnung! Meine Dinge sollen lasten   BvH: Viel Zeit verbringe ich mit dem Laufen durch eine Stadt
        und nicht trudeln. Mir ist extrem wichtig, dass Raum, eine   und dem Reagieren auf eine Situation. Dann prüfe ich, ob
        Wölbung, ein Wegrutschen oder Fluchten entstehen.  ich genügend geschützt bin beim Zeichnen.
      WF: Manchmal denke ich bei deinen Zeichnungen an Hochwas-  WF: Du schaffst dir einen inneren Arbeitsplatz in einer rauen,
        ser: Da schauen nur noch Spitzen aus dem Wasser heraus. Es   unruhigen und abweisenden Umgebung. Das gelingt nur
        könnten auch Ausgrabungen sein. Oft sind es Andeutungen   mit großer Disziplin und Konzentration.
        und Fragmente, wie Erinnerungsfetzen aus einem Traum.   BvH: Schöne Erlebnisse können beflügeln: Ein Lüftchen, nette
      BvH: Ein schönes Sprachbild! Jedes Mal begebe ich mich in   Kommentare, Informationen über den Ort. In Wien beispiels-
        einen ganz offenen Prozess, auch mit parallelen Zeichnun-  weise kam jemand und sagte, dass ich wie Bettina van Haaren
        gen. Alles geschieht bedächtig und mit der gleichen Hin-  zeichne! Viele halten mich sicher für verrückt, weil ich oft an
        wendung. Immer dann, wenn ich nichts Interessantes mehr   miesen Orten sitze, etwa mitten im Müll, neben Verkehrs-
        finde, breche ich ab. In Monopoli gab es eine Fotoausstellung   staus oder Hundedreck, bei starkem Wind, in der Dunkel-
        an allen öffentlichen Orten. Die Mutter-Darstellungen haben   heit, bei heftigen Hitze- oder Kältewerten. Die Widrigkeiten
        mich sehr beschäftigt, etwa das Stillen. Sie passten gut zu den   führen zu Fluchtgedanken!
        Marien und Heiligen oder Märtyrerinnen!         WF: Diese unangenehmen Begleitumstände kenne ich auch, etwa
      WF: Du brauchst Anregungen von außen, etwas, mit dem du   Zecken, Mücken, Schlangen, chemische Abgase, Anfeindun-
        dich beschäftigen musst. Dann überführst du das Gesehene   gen und extreme Temperaturen. Aber man soll das alles nicht
        in eine neue Ordnung. Du scheinst ständig auf der Suche zu   in unseren Arbeiten sehen! Wir wollen die Situation kontrol-
        sein, sammelst, verortest und bewahrst. Du weist den Dingen   lieren. Haben deine Zeichnungen für dich eine Endgültigkeit?
        einen festen Platz in einem bestimmten Bezugssystem zu.  Oder arbeitest du im Atelier später weiter?
      BvH: Dinge oder Themen finde ich fast immer: Tod, Faschis-  BvH: Diese Zeichnungen möchte ich nur unter diesen Bedin-
        mus, Gewalt, Mütterlichkeit, Zärtlichkeit, ein Frauenbild.   gungen entstehen lassen. Nach meiner Erfahrung ändert
        Zum Schluss brauche ich manchmal lange, um noch eine   sich der Strich im geschützten Raum; er wird souveräner.
        kleine Fortführung zu setzen, eine Verstreuung!    Das Wagnis der Unsicherheit ist weg.
        Worin wir uns unterscheiden, ist das Abschließen von For-  WF: Wie bei einem Musiker erscheint es mir richtig, zu wech-
        men. Ich stottere, lasse unvollendet. Ich fühle keine Einheit.  seln zwischen Studio und Bühne.
      WF: Mein Schließen ist mir erst spät bewusst geworden. In   BvH: Dieses Blatt ist mit einem gewissen Mut entstanden,
        meinem Leben gab es immer wieder Brüche, Verluste und   denn junge Männer hatten sich ausgedacht, nackt in einem





                                                  130
   127   128   129   130   131   132   133   134   135   136   137