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Zeichnen vor Ort
BvH: Hakenkreuze habe ich wieder überall gefunden! In Italien Zerstörungen, aus denen heraus ich mich neu erfinden
sind diese Zeichen nicht verboten. Volker und ich waren musste. Das gelingt mir nur, indem ich einen Schnitt mache,
vier Tage in Lecce und dann fünf Tage in Bari. Von dort aus also trenne und beende, sonst bleibt es ein Morast. Müsste
sind wir nach Trani und Monopoli gefahren. Über den Tag ich davon eine Zeichnung machen, würde die etwa so ausse-
wechsele ich mehrfach die Orte und zeichne manchmal nur hen wie deine Blätter, in denen alles klebrig zusammenhängt
zehn, zwanzig Striche an einer Stelle. Eine Zeichnung kann und ineinander übergeht. Mit dem Schließen von Formen
sich zwei, drei Tage hinziehen. Ich markiere den Horizont, verfestige ich, gebe den Dingen einen festen Platz. Die Sess-
um alles perspektivisch einzuordnen. Sehr gerne finde ich haftigkeit meines Elternhauses steht im krassen Gegensatz
Skulpturen, etwa auf einem Friedhof in Lecce, oder Plakate zu deinem nomadischen Leben als Kind und Jugendliche.
mit werbenden Figuren oder figürliche Graffiti, die ich Während bei mir alles an seinem angestammten Platz war,
alle verlebendige. Nur sehr selten beobachte ich Menschen ist bei dir alles in Bewegung gewesen. Vielleicht erklärt sich
direkt, manchmal Betende oder auf Parkbänken Sitzende. daraus einiges in unserer Kunst. Meine Bilder sind wie aus
WF: Mit welchem Stift arbeitest Du? Nach welchen Prinzipien Bauklötzchen. Die Teile kann ich hin und herschieben. Sie
„baust“ du deine Zeichnungen? können sich durchdringen und überlagern.
BvH: Einem Minenstift, 8B. Mit diesem Weichegrad kann ich die BvH: Der große Unterschied zwischen uns ist, dass ich aus-
Dinge auf dem Papier „erstreicheln“. Mich interessieren die probiere, ob mir die Dinge gefallen, also suche, während du
Maßstabverschiebung und ungewöhnliche Perspektiven auf dich früher festlegst.
Dinge. Manchmal entstehen nur zeichnerische Inseln, oft WF: Ich denke und zeichne gleichzeitig. Oder besser: Das
komische Einzelszenen, die ich in kreisenden oder land- Zeichnen ist eine besondere Form des Denkens. Ich grübele
schaftlichen Bewegungen verbinden möchte. Über die Kom- selten. Im Sport ist es ähnlich: Wenn ich den Umweg über
position kann ich zu Beginn nichts sagen. Sehr wichtig finde das Denken mache, bin ich immer einen Schritt zu spät. Es
ich bei der Platzsuche den Betrachter*innenstandpunkt. Ich sind eingespielte Automatismen, die ich abrufe. Setzungen
mag erhöhte Stellen, sodass der Horizont fast ganz oben am im Bild sind Antworten auf bestimmte Konstellationen. Der
Bildrand liegt, oder umgekehrt den fast totalen Unterblick. Inhalt meiner Zeichnungen steckt mehr in den Linien selbst
Die Fluchtpunkte berechne ich. Grundsätzlich gebe ich mir und zueinander als im Gegenstand.
bei aller Freiheit eine Ordnung! Meine Dinge sollen lasten BvH: Viel Zeit verbringe ich mit dem Laufen durch eine Stadt
und nicht trudeln. Mir ist extrem wichtig, dass Raum, eine und dem Reagieren auf eine Situation. Dann prüfe ich, ob
Wölbung, ein Wegrutschen oder Fluchten entstehen. ich genügend geschützt bin beim Zeichnen.
WF: Manchmal denke ich bei deinen Zeichnungen an Hochwas- WF: Du schaffst dir einen inneren Arbeitsplatz in einer rauen,
ser: Da schauen nur noch Spitzen aus dem Wasser heraus. Es unruhigen und abweisenden Umgebung. Das gelingt nur
könnten auch Ausgrabungen sein. Oft sind es Andeutungen mit großer Disziplin und Konzentration.
und Fragmente, wie Erinnerungsfetzen aus einem Traum. BvH: Schöne Erlebnisse können beflügeln: Ein Lüftchen, nette
BvH: Ein schönes Sprachbild! Jedes Mal begebe ich mich in Kommentare, Informationen über den Ort. In Wien beispiels-
einen ganz offenen Prozess, auch mit parallelen Zeichnun- weise kam jemand und sagte, dass ich wie Bettina van Haaren
gen. Alles geschieht bedächtig und mit der gleichen Hin- zeichne! Viele halten mich sicher für verrückt, weil ich oft an
wendung. Immer dann, wenn ich nichts Interessantes mehr miesen Orten sitze, etwa mitten im Müll, neben Verkehrs-
finde, breche ich ab. In Monopoli gab es eine Fotoausstellung staus oder Hundedreck, bei starkem Wind, in der Dunkel-
an allen öffentlichen Orten. Die Mutter-Darstellungen haben heit, bei heftigen Hitze- oder Kältewerten. Die Widrigkeiten
mich sehr beschäftigt, etwa das Stillen. Sie passten gut zu den führen zu Fluchtgedanken!
Marien und Heiligen oder Märtyrerinnen! WF: Diese unangenehmen Begleitumstände kenne ich auch, etwa
WF: Du brauchst Anregungen von außen, etwas, mit dem du Zecken, Mücken, Schlangen, chemische Abgase, Anfeindun-
dich beschäftigen musst. Dann überführst du das Gesehene gen und extreme Temperaturen. Aber man soll das alles nicht
in eine neue Ordnung. Du scheinst ständig auf der Suche zu in unseren Arbeiten sehen! Wir wollen die Situation kontrol-
sein, sammelst, verortest und bewahrst. Du weist den Dingen lieren. Haben deine Zeichnungen für dich eine Endgültigkeit?
einen festen Platz in einem bestimmten Bezugssystem zu. Oder arbeitest du im Atelier später weiter?
BvH: Dinge oder Themen finde ich fast immer: Tod, Faschis- BvH: Diese Zeichnungen möchte ich nur unter diesen Bedin-
mus, Gewalt, Mütterlichkeit, Zärtlichkeit, ein Frauenbild. gungen entstehen lassen. Nach meiner Erfahrung ändert
Zum Schluss brauche ich manchmal lange, um noch eine sich der Strich im geschützten Raum; er wird souveräner.
kleine Fortführung zu setzen, eine Verstreuung! Das Wagnis der Unsicherheit ist weg.
Worin wir uns unterscheiden, ist das Abschließen von For- WF: Wie bei einem Musiker erscheint es mir richtig, zu wech-
men. Ich stottere, lasse unvollendet. Ich fühle keine Einheit. seln zwischen Studio und Bühne.
WF: Mein Schließen ist mir erst spät bewusst geworden. In BvH: Dieses Blatt ist mit einem gewissen Mut entstanden,
meinem Leben gab es immer wieder Brüche, Verluste und denn junge Männer hatten sich ausgedacht, nackt in einem
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