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Ähnliche Versuchsanordnungen










                                BvH: Wir haben uns über Instagram kennengelernt: Das ist so   WF: Früher spielte ich in einem Orchester. Ich weiß, wie man nach
                                  unwahrscheinlich! Beide waren wir an einem Punkt, wo dieses   Noten spielt. Heute suche ich eher Formen zwischen Geräusch,
                                  Experiment sinnvoll erschien, irgendeine Art von Öffentlichkeit   Melodie und Rhythmus. Wenn etwas zu bekannt ist, halte ich
                                  in der Pandemie herzustellen. Wir hatten beide eine extreme   inne und suche nach etwas, das dagegen läuft.
                                  Skepsis gegenüber den sozialen Medien.          BvH: Ich merke, dass du dann teilweise richtig Freude hast, etwas
                                WF: Die Situation war bedrückend. Ich arbeitete an meiner Website.   ziemlich Absurdes zu tun. Du klemmst dir die Röhre zwischen
                                  Wie sollten nun Menschen diese neue Seite finden? Aus Unwis-  die Beine oder legst sie so labil auf den Sessel, dass das Ding
                                  senheit lud ich Hunderte von Bildern auf einmal auf Instagram!  gleich wieder abrutschen muss!
                                BvH: Im September 2020 bin ich auf Instagram eingestiegen. Ich   WF: Jeder Gegenstand hat einen eigenen Willen. Aus dem Spiel
                                  hatte eine Ausstellung in Berlin in der Saarländischen Galerie/  heraus bekomme ich ein anderes Verhältnis zu dem Instrument
                                  Europäisches Kunstforum, die durch ein Medienteam beworben   und befrage es.
                                  wurde. Um die Meldungen über mich zu sehen, richtete ich mir   BvH: Wir beide denken nicht an den Konsumenten. Unsere Produkte
                                  ein Konto ein. Es fing an, mich zu interessieren, weil ich vielen   unterhalten nicht. Sie sind zu offen.
                                  Künstler*innen in dieser Form (wieder) begegne. Ich kannte dich   WF: Wenn ich mit dem Spiel beginne, habe ich in der Regel keine
                                  nicht und erkundete nach dem Instagram-Profil deine Home-  feste Vorstellung davon, was entstehen wird. Ich brauche nur
                                  page. Begeistert von deinen Werken entschied ich mich, dein   einen ersten Ton, einen Klang, der mich auffordert, ihm nachzu-
                                  Werk für den Jerg-Ratgeb-Preis vorzuschlagen, für den ich Jury-  gehen – das muss nicht unbedingt ein Instrument sein. Ich biete
                                  mitglied bin. Es ist ein Preis für eigenständige, innovative, brüchi-  meinen Ohren etwas an und sie entscheiden darüber, ob ich dem
                                  ge Positionen. Du bist zwar nicht Preisträger geworden, bekamst   etwas entgegensetze oder nicht. Also Klang gegen Klang. Mit
                                  jedoch im Winter 2023 eine große Ausstellung im Kunstmuseum   dem Malen und Zeichnen verhält es sich übrigens ganz ähn-
                                  Reutlingen.                                       lich bei mir, nur dass ich dem Auge Farben und Linien anbiete.
                                   Wir sind beide über 60, und es ist nicht mehr leicht, neu durch-  Dieses Alltägliche aus völlig konträren Welten kann ich auch in
                                  zustarten. Wir stellen immer wieder fest, dass die Bezugsperso-  deinen Zeichnungen beobachten, etwa Tannenbäumchen und
                                  nen, die wir im Kunstbetrieb haben, ihre Positionen altersbedingt   Urinierende. Das gibt dem Gewöhnlichen eine neue Inhaltlich-
                                  aufgeben. Zusätzlich wird es schwerer, sich gegen die zunehmend   keit; es wird über sich hinausgehoben.
                                  unterhaltungssüchtige Kulturwelt zu behaupten. Unsere Kunst ist   BvH: Wenn ich zum Zeichnen wegfahre, dann gibt es schon einen
                                  eher von existentieller Relevanz, bohrend, weniger von gefälliger   inhaltlichen Reiz, etwa die Martyrien von Heiligen. Ein Nagel in
                                  Interessantheit. Wir hatten beide das Gefühl, nicht mehr gesehen   der Stirn, Pfeile im Körper, abgetrennte Brüste, enthauptete Figu-
                                  zu werden.                                        ren – der Schmerz überträgt sich auf mich. Ich erzähle mir etwas.
                                WF: Was uns zentral verbindet, ist das Fragmentarische, das Auf-  WF: Ich schalte meinen Kopf beim Machen aus. Ich bin dann ganz
                                  lösen, das Nur-noch-Andeuten oder das Verschwinden. Bei mir   in meiner Klang- oder Bilderwelt und denke nicht begrifflich.
                                  sind es Schlagzeugperformances, die nichts Durchgängiges mehr   Wie du diese alte Kunst in sakralen Gebäuden wahrnimmst und
                                  haben, sondern voller Brüche sind.                in deine Zeichnungen überführst, finde ich äußerst eigen. Es sind
                                BvH: Du gehst mit Alltagsdingen ähnlich wie ich um und befragst   Bestandsaufnahmen durch Registrieren und Zuordnen. Dabei
                                  sie, etwa deine Pappröhren oder Töpfe innerhalb deiner Percus-  scheint es keine zeitlichen oder räumlichen Grenzen zu geben.
                                  sionsstücke. Du probierst und veränderst. Das ist ein ununter-  BvH: In deinen Zeichnungen zeigst du ebenfalls Sexualität oder
                                  brochenes Ertasten und Erkunden wie beim ersten Mal. So gehe   heftige Gewaltszenen. Durch den Irakkrieg, die medial insze-
                                  ich auch vor!                                     nierten Enthauptungen des IS, durch die Desastres de la Guerra
                                WF: Ich schaue mir im Vergleich an, was du gerade in Italien ge-  von Goya sind bei dir viele Zeichnungen von Verstümmelten
                                  macht hast: Du setzt dich widrigen Situationen aus, versuchst   entstanden. Ich glaube, man bezieht Medienbilder immer mit ein
                                  trotzdem hoch konzentriert zu sein und erarbeitest dir aus   und die alte Kunst auf die Jetztzeit.
                                  diesem fast aussichtslosen Anrennen heraus manchmal nur eine   WF: Vielleicht sind solche Bilder längst in uns, genetisch meine ich.
                                  ganz kleine Stelle in deinem Blatt.               Mein Großvater z.B. hatte als Sanitäter an den Schlachten um
                                  Wir beide thematisieren das Suchen. Wenn ich die Pappröhren   Verdun teilgenommen. Heute weiß man, dass solche traumati-
                                  erklären soll: Ein Kind will über das Spiel erfahren, verarbeiten   schen Erfahrungen in unser Erbgut übergehen. Die Grausamkeit
                                  und sich die Welt erschließen. So sehe ich das auch mit meiner   wiederholt sich, und es gibt dafür keine Halbwertzeit. Wenn
                                  Musik – ich gehe mit der mich umgebenden Unruhe um, ich   man Goyas Radierungen anschaut und mit den Bildern aus den
                                  finde einen dazu passenden Rhythmus und Klang. Alles ist   heutigen Kriegsgebieten vergleicht, so sehe ich keinen großen
                                  Reaktion und Reflexion auf das gesellschaftliche, politische,    Unterschied.
                                  alltägliche Chaos.                              BvH: Alles ist komplex. Wir sind überfordert. Wir scheitern an
                                BvH: Bei mir ist es in der Zeichnung ganz ähnlich: Ich weiß grund-  einer Erklärung, wollen jedoch so präzise wie möglich sein.
                                  sätzlich ganz viel über die Linie, über die Beschreibung von   WF: Das Scheitern ist der Kunst immanent. Im Grunde ist jede
                                  Dingen. Aber wenn ich etwas zu souverän beherrsche, breche ich   Zeichnung nicht mehr als ein Erklärungsversuch. Je verbisse-
                                  ab, suche etwas Neues. Ich möchte in vollkommener Achtsamkeit   ner ich nach Antworten suche, umso mehr verschließt sich der
                                  bleiben, nicht über der Sache stehen. Ich strebe eine vorläufige   Gegenstand meiner Betrachtungen.
                                  Ordnung an.
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